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Die Stumme - La Muette

Titel: Die Stumme - La Muette Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chahdortt Djavann
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Mullah gehen und ihm dein Einverständnis geben. Er stellt schließlich die Heiratsurkunden aus, dann kann er auch eine für sich selbst ausstellen.«
    »Du redest über sie, als würden wir irgendeinen Gegenstand verkaufen.«
    »Jetzt hör mir mal zu, deine Schwester ist neunundzwanzig Jahre alt und stumm, das ganze Viertel hat Angst vor ihr. Erinnere dich nur daran, als sie krank war, du hast selbst geglaubt, sie würde verrückt werden. Die Ehe ist für sie das beste Heilmittel.«
    »Aber ich kann sie nicht gegen ihren Willen mit jemandem verheiraten, den sie verabscheut.«
    »Kennst du etwa andere Anwärter? Und wie kann sie jemanden verabscheuen, den sie nicht einmal kennt? Sie hat bloß Angst, das Haus zu verlassen, es ist nicht gut, dass sie so an dir hängt. Du bist ihr Bruder, nicht ihr Mann.«
    »Bis Ende des Jahres trägst du ohnehin noch Trauer wegen deines Vaters; danach werden wir das alles noch einmal in Ruhe überdenken, nächstes Jahr«, sagte mein Vater und beendete damit das Gespräch.
    Die Stumme hockte in einer Ecke des Hofs und rauchte eine Zigarette. Ich hätte sie gern getröstet und
ihr erzählt, was ich am Vortag gehört hatte, aber ich traute mich nicht. Sie sah so düster aus. Ich betrachtete sie vom Fenster aus und traf dann eine Entscheidung.
     
    Am folgenden Freitag, als der Mullah zum Gebet kam, ging ich nicht mit der Stummen hinaus in den Hof, sondern blieb in der Küche und bot meiner Mutter an, etwas Tee vorzubereiten. In Wirklichkeit tat ich das, um sie auszuspionieren. Obwohl ich mein Kopftuch fest um den Kopf gebunden hatte, bemerkte ich, während ich mit dem Tablett in der Hand auf den Mullah zuschritt, den stechenden Blick, mit dem er mich über den Rand seiner Brille hinweg in Augenschein nahm. Sicher hatte er gedacht, die Stumme würde ihn bedienen. Ich beugte mich vor und hielt ihm das Tablett hin, damit er eine Tasse nahm, aber ich hatte sie zu vollgegossen, und so war ein wenig Tee auf die Untertasse geschwappt.
    »Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass man die Tassen nicht so vollgießen darf?«
    Meine Mutter war es, die mir meine Ungeschicklichkeit vorwarf. Meine Hände zitterten, das Tablett und die Tasse auch. Aber das ist doch nicht schlimm,
sagte der Mullah und nahm seine Tasse. Ich hob den Blick und begegnete dem seinen, der mich durchdrang. Ich weiß nicht warum, aber in dem Augenblick hatte ich eine böse Vorahnung. Ich kehrte in die Küche zurück, beobachtete ihn. Nach dem Gebet unterhielt er sich vor der Eingangstür mit meiner Mutter, leider konnte ich nicht hören, was sie sagten, es war zu leise. Aber ich war mir sicher, dass meine Mutter etwas ausheckte. Und ich hatte mir geschworen, ihre Pläne zu durchkreuzen.

W as hast du getan, dass man dich zum Strang verurteilt hat?«
    »Das ist eine lange Geschichte.«
    »Ist es das, was du aufschreibst?«
    «Mehr oder weniger.«
     
    Die Stumme und ich waren mit dem Frühjahrsputz beschäftigt. Mein Vater war verreist und meine Mutter bei der Arbeit. Ich half der Stummen, die Fenstertür zu putzen. Das Wetter war schön und sonnig, die Luft noch frisch, ein echter Frühlingstag. Ich hielt den Schlauch in der Hand und spritzte das Fenster ab. Da tauchte mein Onkel im Eingang auf, er hatte eingekauft. Nachdem er die Sachen in die Küche gestellt hatte, ging er in den Hof. Er erzählte, er habe kein Brot kaufen können, weil es beim Bäcker eine Schlägerei gegeben habe: Wie üblich hatten einige gemogelt und sich in die lange Schlange gedrängelt; nach einigen Protestrufen und Beleidigungen waren mehrere
Leute handgreiflich geworden, schließlich hatte ein Kerl sein Messer gezückt und es dem anderen in den Bauch gerammt.
    »Was für ein Land! Die Leute bringen es fertig, sich für ein Stück Brot gegenseitig umzubringen«, sagte er und zündete sich eine Zigarette an.
    Derartige Szenen waren in unserem Viertel nicht selten; und ich dachte bei mir, dass sinnlose Gewalttaten offenbar die einzige Möglichkeit für arme Menschen waren, ihren Mannesmut unter Beweis zu stellen.
    Die Stumme beachtete meinen Vater nicht und putzte weiter die Fenster. Mein Onkel näherte sich und bot ihr eine Zigarette an. Doch ohne sich umzudrehen, kam die Stumme auf mich zu, schnappte sich den Schlauch und richtete den Wasserstrahl auf meinen Onkel, der aufschrie: Hast du den Verstand verloren, was ist denn in dich gefahren? Das Verhalten der Stummen verriet ihre Wut, es steckte jedenfalls keine Neckerei dahinter. Triefend warf er seine

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