Die Stunde der Schwestern
versuchte, auf dem Weingut seiner Vorfahren wieder Fuß zu fassen. Er hatte sich bis über beide Ohren bei der Bank verschuldet, und wenn der diesjährige Wein sich nicht wirklich gut verkaufte, hatte er alles verloren.
Rasch lief er um den Wagen herum und öffnete Marie-Luise die Tür, erleichtert, nicht sofort antworten zu müssen.
»Tristan, du bleibst sitzen!«, schärfte Marie ihrem Hund ein. Sie wandte ihm den Kopf zu, und als sie ausstieg, stolperte sie. Hippolyte fing sie auf. Einen kleinen Moment drückte er sie an sich, und er spürte ihren Körper und atmete den zarten Duft ihrer Haut nach Jugend und Sonne ein. Ihre Nähe verwirrte ihn, der Alkohol machte ihm Mut, und so beugte er sich zu ihr und küsste ihre Lippen, die sich bereitwillig öffneten.
Nur langsam ließ er sie nach dem langen Kuss los. Die beiden sahen sich verwirrt an, jeder wollte schnell betonen, dass es eigentlich nicht seine Art war … Doch dann lächelten sie und wussten, dass es gut und richtig gewesen war.
Als Hippolyte ihr leicht die Haare aus dem Gesicht strich, spürte er, dass sie beobachtet wurden, und als er sich rasch umdrehte, sah er direkt in die Augen von Denise Aubry-Déschartes, seiner Schwiegermutter, die auf der anderen Straßenseite stand und feindselig zu ihnen herüberstarrte.
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3
Oktober 2001
Paris
E s war Herbst geworden, einer dieser grauen, nassen Tage in Paris. An den Bäumen in der Avenue Montaigne hing kein Blatt mehr, und am Himmel war kein Licht zu sehen. Ein Tag, an dem das Wetter die schlechte Laune im Atelier noch schlechter werden ließ, als sie die letzten Tage bereits gewesen war.
Obwohl es spät am Abend war und jeder nach Hause wollte, peinigte Maxime seine Mitarbeiter mit Launen, Ausbrüchen und ständig neuen Ideen, die er sofort wieder verwarf.
»Die Show ist im Februar, und er führt sich auf, als wäre sie morgen«, flüsterte Raul übellaunig hinter vorgehaltener Hand. Neben ihm stand Jean Bergé, der bekannte Modefotograf, der gekommen war, um mit dem Designer Entwürfe durchzusprechen, die er für die amerikanische
Vogue
fotografieren sollte. Doch Maxime war mit den Skizzen für ein Abendkleid nicht zufrieden, egal, was sein Team ihm vorschlug.
Die Stimmung der Mitarbeiter war aufgeladen mit Hysterie und Aggression gegen Maxime. Bérénice stahl sich leise aus dem Atelier, denn es ging um Entwürfe, die nicht bestickt wurden. Jean Bergé jedoch war ihr nachgelaufen und holte sie auf der Treppe ein. »Haben Sie Lust, heute Abend mit mir essen zu gehen?«
Bérénice blieb stehen und zögerte für einen Moment. Jean sah sehr gut aus. Er war groß, schlank, und die Lederjacke, die er lässig über die Schultern gehängt hatte, passte gut zu seinen blonden Haaren und den blauen Augen. Doch dann lehnte sie freundlich ab und lief weiter. Vor dem Eingang holte Jean sie erneut ein und drückte ihr seine Visitenkarte in die Hand. Er verabschiedete sich rasch und stieg wieder die Treppe hinauf ins Atelier. Achtlos steckte Bérénice seine Karte in ihre Handtasche. Sie hatte es eilig, vor dem nächsten Regenguss nach Hause zu kommen. Aber direkt vor der großen Eingangstür mit den schmiedeeisernen Blumenranken drehte sie sich noch einmal um.
»Vielleicht irgendwann einmal …«, rief sie dem Fotografen nach, bevor die schwere Tür hinter ihr zufiel.
Sie lief rasch die Avenue Montaigne entlang bis zum Rond Point. Ein heftiger Wind war aufgekommen, starker Regen setzte bereits ein, und völlig durchnässt tauchte Bérénice in die Metro-Station ab.
Zu Hause angekommen, ging sie unter die Dusche, kochte sich einen starken Kaffee und setzte sich an den kleinen runden Küchentisch. Unkonzentriert blätterte sie in einer alten Modezeitung, doch ihre Gedanken beschäftigten sich mit Jean Bergé. Seine Einladung war überraschend gekommen. Er wollte mit ihr ausgehen, aber wollte sie das auch? Jean wurden viele Affären nachgesagt. Also lieber nicht, entschied sie und trank einen Schluck von ihrem heißen Kaffee. Im Haus mit den vier Stockwerken war es still, trotz des schlechten Wetters schien an diesem Freitagabend niemand zu Hause zu sein. Wieder lag ein einsames Wochenende vor ihr.
Als das Telefon läutete, blieb sie sitzen. Sicher war es Maxime, der sich über ihr rasches Verschwinden beklagen wollte. So ließ sie es läuten, doch als es ein zweites Mal ansetzte, erhob sie sich, ging ins Wohnzimmer und griff unlustig nach dem Hörer.
Es war ihre Mutter.
»Wie geht es dir?«, fragte
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