Die Stunde der Schwestern
antwortete Bérénice kurz angebunden. Sie wollte nicht mehr erzählen, schon gar nicht über ihre Ehe. Es riss Wunden auf.
Jetzt wurde das Hauptgericht serviert, Rinderfilet Richelieu mit Schlosskartoffeln und gefüllten Champignons, doch so gut es auch war, Bérénice hatte plötzlich keinen Hunger mehr. Jean spürte ihren Stimmungswechsel, und so erzählte er wieder von Fotoaufnahmen, Models und über Maxime, den Exzentriker.
Bérénice hörte jedoch nicht mehr zu. Ihre Gedanken wanderten zurück in die Vergangenheit. Plötzlich erinnerte sie sich an ihre erste Nacht mit Hippolyte.
Heimlich hatte sie sich aus dem Haus ihrer Mutter geschlichen und war eilig hinauf zum Weingut geradelt. Hippolyte wartete auf sie, und mit klopfendem Herzen schlichen sie, Hand in Hand, hinter dem Haus den kleinen Weg hoch bis zu einer versteckten Wiese. Zwischen Thymian und stacheligen Brombeeren küssten sie sich, und Bérénice erinnerte sich genau an den Moment, als er seine Hand in den Ausschnitt ihres geblümten Kleides schob. An die erste große Erregung, als sie sich auf der Wiese liebten und sie ihm zärtliche Worte ins Ohr flüsterte.
»Immer werde ich dich lieben, Hippolyte, immer … Du bist der Grund meines Lebens, für immer, Hippolyte, für immer …«
Damals war sie neunzehn und Hippolyte dreiundzwanzig Jahre alt gewesen. Sie hatten sich ewige Liebe geschworen, und doch hatte sie ihm seit vier Jahren nicht verzeihen können.
Liebe kann verzeihen …
Bérénice versuchte, die Erinnerungen abzuschütteln, atmete durch und lächelte Jean zu. Sie hatte nicht gespürt, dass er mit seiner Hand ihre verkrampften Finger umschloss und sich über den Tisch zu ihr beugte. Und Bérénice ließ es zu, dass er sie leicht auf den Mund küsste.
*
Am nächsten Abend ging sie mit Jean zu einer Vernissage, auf der Modefotos aus den fünfziger Jahren gezeigt wurden. »Adrienne, die Witwe des Fotografen, ist eine alte Freundin von mir«, erzählte Jean auf dem Weg in die Rue Bonaparte zur Petite Galerie des Arts. »Es ist nur eine kleine Ausstellung, eine Hommage an einen großen Künstler. Georges Bonnet hatte einen unverwechselbaren und ganz eigenen Stil. Doch plötzlich war seine Art des Fotografierens nicht mehr gefragt. Die Modeszene war damals im Umbruch, London wurde das Maß aller Dinge, junge englische Fotografen machten Karriere und mit ihnen ein anderer Typ Model: dürr und kindlich. Georges Bonnet, der große Verfechter der Eleganz, die er meisterhaft in Szene setzte, geriet schnell in Vergessenheit. »Übrigens gab sich Adrienne am Telefon sehr geheimnisvoll«, fuhr Jean fort. Sie habe Fotos für die Ausstellung herausgegeben, die noch nie öffentlich gezeigt worden seien, sie seien sensationell.«
»Das klingt doch gut«, antwortete Bérénice mehr aus Höflichkeit denn aus Interesse für die Ausstellung. Sie war mitgegangen, um einen einsamen Sonntag zu überstehen. Vielleicht aber auch, um mit Jean zusammen zu sein.
Er zuckte mit den Schultern. »Es scheinen Fotos einer jungen Frau zu sein, eines Mädchens aus der Provinz, das Georges zum Star gemacht hat. Er muss sie sehr geliebt haben, Adrienne ist heute noch eifersüchtig auf sie. Er hat drei Jahre mit ihr gearbeitet, dann verschwand sie plötzlich. Doch wenig später war Georges’ Stil ohnedies veraltet. So ist diese Branche eben: Heute ein Star, morgen wirft man dich weg.«
Diese bitteren Worte machten Bérénice nachdenklich. Sie dachte an Maxime Malraux, der sich gegen die jungen Wilden der Modeszene kaum mehr durchsetzen konnte. Seine Eleganz war nicht mehr gefragt. Plötzlich empfand sie Mitleid mit ihm. In seinen Launen und seinem Jähzorn erkannte sie auf einmal seine Angst vor dem Alter und dem Abgleiten in die Vergessenheit.
»Was ist mit der Frau passiert?«, wollte sie noch wissen, als sie bereits vor der kleinen Galerie standen.
»Keine Ahnung«, antwortete Jean achselzuckend, bevor er ihr die Tür öffnete. »Es gab die eigenartigsten Gerüchte, erzählte mir Adrienne. Man sprach von Selbstmord, auch Drogensucht, ich weiß es nicht. Ich habe ja erst vor ein paar Tagen von dieser Frau gehört, ich kenne keines der Fotos. Sie war offenbar sehr einsam wie viele in dieser Branche und wurde schnell vergessen. Ich denke nicht, dass sich für diese Ausstellung eine Menge Leute interessieren, außer einem kleinen Kreis von Insidern.«
Jean hatte offenbar recht. Als sie die kleine Galerie betraten, war diese nur wenig besucht. Zusammen schlenderten
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