Die Stunde der Schwestern
sie an den Bildern vorbei. Bérénice gefielen die Fotos von Georges Bonnet. Für ihr Empfinden setzten sie die Kleider der berühmten Designer der fünfziger Jahre großartig in Szene.
»Da drüben ist Adrienne. Kommen Sie, ich werde Sie vorstellen!« Jean nahm Bérénice am Arm und ging mit ihr in den letzten Raum.
Die Witwe von Georges Bonnet stand an der gegenüberliegenden Wand, ein wenig verdeckt von einem Fotografen und seiner Begleiterin, denen sie Fragen beantwortete. Sie war eine kleine, zierliche Frau mit tiefschwarzgefärbten Haaren, eng und glatt an den Kopf frisiert. Den schmalen Mund betonte die Achtzigjährige mit einem blutroten Lippenstift.
»Grässlich, sie schminkt und kleidet sich genauso wie vor Jahren, sie vergisst, dass sie alt ist. In den Fünfzigern war sie sicher eine attraktive Frau, jetzt wirkt sie leider eher grotesk.« Jean schüttelte missbilligend den Kopf.
Er und Bérénice blieben ein wenig abseits stehen und warteten, bis das Interview zu Ende war und die kleine Gruppe vor den Fotos sich auflöste.
»Sie sind herzlos«, wandte Bérénice lebhaft ein, ohne die Reaktion der Galeriebesucher mitzubekommen, die sie verstohlen beobachteten. Jean hörte ihren Protest nicht mehr, er hatte ihren Arm losgelassen und war auf die Wand mit den Fotos zugegangen. Selbst Adrienne übersah er. Dann drehte er sich langsam zu Bérénice um, die ihm verwundert folgte, bis sie neben ihm stand und die Bilder genauer sehen konnte. Sie zeigten eine schöne junge Frau mit vollen, sinnlichen Lippen, kurzen Haaren und harmonisch geschwungenen Augenbrauen. Die Fotos waren numeriert und nach Kollektionen bezeichnet:
Fleur auf den Stufen vom Montmartre in einem weißen Kleid von Yves Saint-Laurent – Fleur vor dem Café de la Paix in einem grauen Tailleur von Molineux – Fleur im herbstlichen Paris an der Seine in einem dunkelblauen Kostüm von Chanel – Fleur in einem geblümten Seidenkleid von Givenchy nachts auf den Champs-Elysées – Fleur in einem Traum aus rotem Chiffon von Balenciaga im La Coupole.
Die Besucher der Galerie waren verstummt und beobachteten Bérénice jetzt unverhohlen. Sie drehte sich um und starrte verwundert auf die andere Wand. Dort hingen große Porträts, die meisten in Schwarzweiß. Sie zeigten die junge Frau ungeschminkt, ganz in ihrer Verletzlichkeit, mal nachdenklich, dann wieder traurig und einmal lächelnd. Darunter nur ein einziger Name
: Fleur.
Bérénice fühlte sich unbehaglich unter den neugierigen Blicken der Besucher, doch Jean überspielte die Situation, fasste sie am Arm und stellte sie Adrienne vor. Doch auch Bonnets Witwe machte keinen Hehl aus ihrer Verwunderung und stellte sich direkt vor Bérénice auf die Zehenspitzen, um sie ganz genau zu mustern.
»Das gibt es nicht, das kann nicht sein … Fleur!« Adrienne starrte Bérénice aus schwarzen kajalumränderten Augen an. Der Fotograf neben ihr hob die Kamera und schoss ein Foto von Bérénice.
Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie sehr sie dieser Frau auf den Bildern ähnlich sah. Zum Verwechseln ähnlich. Die Besucher der Galerie scharten sich um sie und bedrängten sie mit der Frage, ob sie mit Fleur verwandt sei und ob … Bérénice schüttelte ablehnend den Kopf.
»Jean, bitte, ich möchte gehen.«
»Natürlich.« Er wechselte noch rasch ein paar Worte mit Adrienne, doch da hatte Bérénice bereits die Galerie verlassen.
Draußen blieb sie einen Moment stehen und atmete tief durch. Dann lief sie weiter, fast hatte sie Jean vergessen, bis er sie einholte.
»Das ist wirklich ein seltsamer Zufall, oder nicht?« Prüfend sah er sie an.
Bérénice war blass geworden, sie dachte an Maxime, der diesen Namen gestammelt hatte, als sie das erste Mal vor ihm stand. Fleur. Auch er hatte fassungslos reagiert. Fleur.
Als Jean sie an sich zog, nahm sie es kaum wahr, denn langsam drängte sich ein vager Moment aus ihrer Kindheit in ihr Gedächtnis: Sie saß im Kinderwagen, und eine Frau beugte sich über sie. Die Frau trug einen kleinen Hut mit einer Feder. Diese Feder wippte hin und her und kitzelte Bérénice an der Wange, als die Frau sie küsste, während ihr Tränen über die Wangen liefen.
»Das ist Fleur, eine Tante«, hatte Denise erklärt.
Wieso hatte sie das vergessen, als Maxime sie Fleur nannte? Fleur, eine Tante …
Aber es gab noch einen anderen Moment, undeutlich, zerrissen, düster und beklemmend. Doch der Nebel der Erinnerung wollte sich nicht auflösen, und was blieb, war ein
Weitere Kostenlose Bücher