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Die Stunde Der Toechter

Titel: Die Stunde Der Toechter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Herzig
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der Bank und verlagerte ihr Gewicht abwechselnd vom einen auf den anderen Fuß.
    »Gib mir eine Zigarette, Tam. Ich habe meine im Auto liegen lassen.«
    Tamara kramte in ihrer Handtasche und brachte eine Packung Chesterfield zum Vorschein. Johanna nahm sich eine Kippe.
    Als Tamara ihr ein goldenes Feuerzeug reichte, ergriff Johanna die Hand ihrer Jugendfreundin. »Setz dich.«
    »Wir haben keine Zeit, Jeanne. Die Predigt wird gleich beginnen.« Trotzdem setzte sie sich neben Johanna und zündete sich ebenfalls eine Zigarette an. »Eigentlich rauche ich nur nach dem Essen. Und manchmal vor dem Schlafengehen.« Sorgfältig strich sie ihre Hose glatt.
    »Weißt du noch, wie wir beim Schloss oben auf einem Bänkchen gesessen und gekifft haben?«
    Tamara kicherte. »Und wie! Da waren jeweils diese beiden Jungs dabei. Der eine hat den Stoff besorgt. Wie hießen die noch?«
    »Steff war der Hübschere, Tom der mit dem Shit.«
    »Ja, genau. Tom wollte mit mir ins Bett. Aber ich hab’s mit dem Herzigen gemacht.« Tamara puffte Johanna in die Seite.
    Diese schaute sie an. Lange. Plötzlich prustete sie los.
    »Was ist? Jeanne? Hast du etwa auch mit Steff geschlafen? Er war scheu. Und zärtlich. Das weiß ich noch ganz genau.«
    Johanna nickte und zog an ihrer Zigarette.
    Tamara grinste. »Und heute sitzen wir unterhalb der Kirche und haben ein schlechtes Gewissen, weil wir eine Zigarette rauchen. Ich wenigstens.«
    Johanna stand auf. »Lass uns deinen Großvater unter die Erde bringen.«
    Tamara packte ihre Handtasche und erhob sich. Gemeinsam stiegen sie die letzten Meter zur Kirche hinauf. So kamen sie von der Rückseite her an den Eingang. Zum Glück, denn der Hauptzugangsweg wurde von einer Menschenmenge versperrt. Alle wollten dem alten Stämpfli die letzte Ehre erweisen.
    Irgendwo musste es einen Supermarkt für empathische Gesichtsausdrücke, Allerweltslächeln und mechanisches Kopfnicken geben. Dort hatte der Pfarrer eingekauft. Er stand rechts vor dem Eingang. Daneben die Trauerfamilie. Die Leute, die die Kirche betraten, kondolierten.
    Johanna sah Tamaras Vater. Er lächelte, als sie ihm zunickte. Neben ihm stand eine Familie wie aus dem Fotoalbum. Der Mann war Bernhard Stämpflis Bruder. Er sah älter aus. Und herrischer. Soweit Johanna wusste, war er Anwalt. Daneben seine Frau. Eine kühle, blonde Schönheit. Johanna glaubte sich zu erinnern, dass sie Holländerin war. Davor Sohn mit Freundin und Tochter mit Mann und Sohn. Tamaras Cousine war schön wie die Mutter und selbstbewusst wie ihr Vater. Judith Stämpfli war ebenfalls auf dem Gymnasium gewesen. Zwei Klassen unter Johanna und Tamara. Ihr Bruder hatte eine Privatschule besucht. Neben ihm stand Tamaras Tante, Marianne Stämpfli. Johanna kannte sie, weil Tamara regelmäßig bei ihr zu Mittag gegessen hatte. Manchmal war Johanna mitgegangen. Marianne Stämpfli schluchzte in ein Taschentuch.
    »Lass uns bloß nicht zu denen gehen«, flüsterte ihr Tamara ins Ohr. »Dort ist meine Mutter.« Sie winkte jemandem zu.
    Nun sah Johanna Claudia Escher ebenfalls. Sie stand etwas weiter weg unter einem Baum. Erst jetzt fiel Johanna auf, wie angenehm kühl es hier oben war. Die Kirche war umgeben von wuchtigen Bäumen, die behaglichen Schatten spendeten. Für eine Alkoholikerin sah Tamaras Mutter gut aus. Offenbar war sie seit mehreren Jahren trocken. Sie trug einen eleganten Hosenanzug und einen extravaganten Hut. Während Johannas Schulzeit waren Tamaras Eltern bereits getrennt gewesen. Claudia Escher hatte es im Emmental nicht ausgehalten und war zurück nach Zürich gegangen. Manchmal hatten Tamara und Johanna sie besucht. Das war jedes Mal eine kleine Weltreise gewesen.
    Claudia Escher küsste ihre Tochter und reichte Johanna die Hand. »Schön, dich wiederzusehen. Es ist lange her.«
    Sofort fiel Johanna der unglaublich breite Zürcher Dialekt auf. Die klassische Züri-Schnurre. Selbst an der Limmat hörte man dies selten.
    »Grausam viele Leute hat es hier. Man könnte meinen, ein bedeutsamer Mensch sei gestorben.« Claudia Escher kicherte. »Wenn die wüssten, dass sie einen kleingeistigen Geizhals verscharren!«
    Tamara gab ihrer Mutter einen Stups. »Ma, sei still! Wir sind hier nicht zu Hause.«
    »Ja, genau. Wir sind im Feindesland. Nimm dich in Acht.«
    Johanna unterdrückte ein Lachen. »Jetzt wird mir natürlich klar, wieso Tamara mit einer Leibwache in die Kirche gehen muss.«
    Alle drei glucksten leise. Unverzüglich drehten sich einige Köpfe nach ihnen

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