Die Stunde Der Toechter
um. Claudia Escher schaute trotzig zurück.
Mittlerweile waren die meisten in die Kirche hineingegangen. Den dreien blieb nichts anderes übrig, als sich ebenfalls in den Menschenstrom einzureihen. Interessiert beobachtete Johanna, wie distanziert Tamara und ihre Mutter von der Familie begrüßt wurden. Wenig Worte, kaum ein Lächeln. Einzig Judith und Marianne Stämpfli umarmten Tamara. Johanna streckte mechanisch die Hand aus und murmelte ihr Beileid, bis sie endlich in der Kirche verschwinden konnte. Dort war es kühler, was ihre Lebensgeister anregte. Allerdings hatte sie sich vorgenommen, ihre Aufmerksamkeit während der Predigt auf Stand-by zu schalten.
Sie setzte sich in eine der letzten Reihen. Es war still. Nur leises Husten und vereinzelte Schluchzer waren zu hören. Jedes Geräusch hallte in den Weiten des Kirchenschiffs unzählige Male wider. Nachdem die Familie zusammen mit dem Pfarrer durch den Mittelgang nach vorn gegangen und sich in die vordersten Reihen gesetzt hatte, schloss der Kirchendiener in Johannas Rücken das Tor. Es klang endgültig.
8.
Die Predigt war furchtbar gewesen. Aber aufschlussreich. Vorausgesetzt man interessierte sich für protestantischen Moralismus und kleinstädtische Bigotterie. Bereits nach wenigen Sätzen hatte sich Johanna nicht mehr auf den Inhalt konzentriert. Die Leute zu mustern war unterhaltsamer.
Eine Kirchenbank eröffnete außergewöhnliche Perspektiven. Auf löchrige Socken, warzige Fersen, schuppige Haare, behaarte Ohren, triefende Nasen, schmutzige Hemden, hängende Bäuche, zittrige Hände, Schweißflecken unter den Armen, Schweißstreifen über dem Gesäß, eine Hand unter einem Rock und ein blaues Auge unter einer Sonnenbrille. Verglichen damit war der Leichenschmaus nichts Besonderes gewesen. Salziger Beinschinken und fader Kartoffelsalat.
»Den leckeren Schinken hat der alte Gauner ins Ausland verscherbelt. Genauso wie den würzigen Emmentaler«, hatte Claudia Escher Johanna am Buffet zugeflüstert.
Daraufhin hatte diese beinahe den Teller fallen lassen. Mit einem beherzten Ausfallschritt hatte sie das Unglück im letzten Augenblick verhindern können. Und war mit Judith Stämpfli zusammengestoßen. In dem darauf folgenden Gespräch hatten sie Höflichkeiten ausgetauscht.
Judith war Soziologin und unterrichtete an einer Fachhochschule. Daneben arbeitete sie an ihrer Dissertation. Wenn diese abgeschlossen war, würde sie am liebsten für eine internationale Organisation arbeiten oder an einer Universität lehren. Wenn möglich in Bern. Dort wohnte sie in einer Genossenschaftssiedlung. Ihr Mann leitete einen staatlich finanzierten Kulturbetrieb, ihr Sohn lernte gerade sprechen, und die Tatsache, dass der Schinken versalzen war, störte sie weit weniger als die Vermutung, dass er höchstwahrscheinlich nicht von einem biologisch produzierenden Bauernhof stammte.
Von Judith hatte Johanna erfahren, dass Tamara die Beisetzung auf dem Friedhof verpasst hatte. Diese hatte vor der Trauerfeier stattgefunden. Ein Sarg, keine Urne. Am Abend hatte Johanna Tamara darauf angesprochen.
Ihre Freundin hatte mit den Schultern gezuckt. »Ich dachte, wir lassen den deprimierenden Teil weg.«
Daraufhin hatte Claudia Escher ihre Tochter in den Arm genommen und Johanna erklärend angeblickt. »Der alte Stämpfli war ein harter Mann. Ohne Gefühl für Kinder. Weder für seine noch für seine Enkel.«
Im Nachhinein war sich Johanna nicht mehr sicher, ob sie Tränen in Tamaras Augen gesehen hatte.
Das war in einem Landgasthof im Lindental gewesen. Claudia Escher hatte vorgeschlagen, anstelle des Schinkens eine anständige Mahlzeit an einem bodenständigen Ort einzunehmen.
Es war ein lustiger Abend geworden mit zarter Kalbsleber, in Schweineschmalz gebratene Rösti, einer riesigen Meringue zum Dessert und unzähligen Gläsern gebrannten Wassers. Auf Letzteres hatte Tamaras Mutter verzichtet und wacker Kaffee getrunken. Literweise. Bis es ihr zu mühsam geworden war. Deshalb hatte sie kurzerhand beschlossen, im Lindental zu übernachten. Freie Zimmer waren vorhanden.
So war Johanna in ein Bett mit rot-weiß kariertem Bezug geschlüpft und hatte gehofft, von Kuhglocken und Vogelgezwitscher geweckt zu werden.
Aber stattdessen bohrte sich irgendwann der Klingelton ihres Handys durch die Schädeldecke hindurch in ihr Bewusstsein.
»Von Kranach, Kevin, Kommissariat Fahndungen. Ich muss dich sprechen. Heute.«
Johanna grunzte irgendetwas und schmiss das Telefon auf den
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