Die Stunde Der Toechter
Jedenfalls scheint der Bube sich nicht zu fürchten. Im Gegenteil, er wirkt erregt. Vielleicht küsst ihn die Löwin, vielleicht frisst sie ihn auch.«
Johanna legte den Ordner beiseite und zog den Stapel mit den Fotos heran. Still blätterte sie darin.
Diesmal hielt es von Kranach weniger lange aus als sie. »Ich weiß, Stämpflis Tochter ist deine Jugendfreundin. Ihr seid zusammen zur Schule gegangen. Das ist lange her, Jo. Heute geht es darum.« Er klopfte auf den Ordner. »Der illegale Handel mit Kulturgütern ist einer der ganz großen globalen Schwarzmärkte. Und die Schweiz gehört zu den größten internationalen Handelszentren. Unsere diesbezüglichen Gesetze sind lasch. Politisch ist die Schweiz unter Druck. Diesbezüglich würde es helfen, wenn unsere Außenministerin und der UNO-Generalsekretär in einem medienwirksamen Auftritt dieses Relief zusammen mit einigen Tonsiegeln der irakischen Regierung überreichen könnten.« Er schaute Johanna eindringlich an. »Hier wird jahrtausendealte Kunst verschoben, damit sie für immer in einem privaten Tresor verschwindet. Das ist größer als du und ich, Jo.«
Johanna nahm ein Foto zur Hand, auf dem Tamara und ihr Vater abgelichtet waren. »Sie waren wie eine Familie für mich.«
Von Kranach sagte nichts und goss erneut Wasser nach.
»Hast du Familie, Kevin?«
Er nickte.
»Ich hatte damals keine. Außer meiner Großmutter.« Sie legte das Foto zurück auf den Tisch. »Gib mir einen guten Grund, wieso ich dir helfen sollte.«
Er reichte ihr das Wasserglas. »Weil du eine von uns bist, Jo.«
Sie trank das Glas in einem Zug leer. »Stimmt es, dass Hügli in diese Geschichte verwickelt ist?«
Zum ersten Mal wirkte von Kranach erstaunt.
Diese Information hatte Johanna von Köbi erhalten. »Unser Hügli?«, hatte sie ihn während des Spaziergangs am Üetliberg gefragt, »unser halbseidener Milieukönig?« Köbi hatte genickt. »Die beiden Saukerle werden sich auf einer von Hüglis Nutten kennengelernt haben«, war sein Kommentar gewesen.
Kevin von Kranach drückte es gepflegter aus. »Der Tote vom Montagabend war Hüglis Anwalt. Einer seiner engsten Vertrauten. Er war unser Mittelsmann. Mit Stämpfli hatten wir nie direkt zu tun. Deshalb waren wir erstaunt, dass er selbst im Wagen gesessen hat.«
»Daraus folgert ihr, dass Hügli und Stämpfli Partner sind?«
Von Kranach nickte. »Wir vermuten schon länger, dass die beiden zusammenarbeiten. Wahrscheinlich kümmert sich Hügli um die Logistik in der Schweiz. Um Transport und Lagerung. Vielleicht auch um die Einfuhr. Wer Frauen, Drogen und Waffen schmuggelt, kann auch ein paar alte Tonsiegel über die Grenze bringen.« Er räusperte sich. Wahrscheinlich staunte er selbst am meisten über seinen Zynismus. »Stämpfli hat seine Karriere in den Siebzigerjahren mit Objekten aus italienischen Raubgrabungen begonnen. Möglicherweise begann in dieser Zeit seine Geschäftsbeziehung mit Hügli.«
Sie schwiegen um die Wette. Diesmal siegte Johanna.
»Um die Formalitäten musst du dich nicht kümmern. Das habe ich bereits erledigt.«
Es war ihr, als umspiele ein spöttisches Lächeln seine Lippen.
»Der vorgesetzte Offizier von Aussersihl/Industrie ist stolz, eine seiner Leistungsträgerinnen für eine derart wichtige Ermittlung abkommandieren zu dürfen.«
Schmunzelnd unterdrückte Johanna eine schnöde Bemerkung. Sie bezweifelte, dass der zuständige Offizier zu etwas anderem als Duckmäusertum fähig war. Wenn ein aufstrebender und angesehener Kripobeamter etwas von ihm wollte, würde er händereibend kooperieren und später versuchen, daraus Kapital für seine eigene Karriere zu schlagen. Daran, dass er sie gegenüber von Kranach als Vorzeigemitarbeiterin bezeichnet hatte, würde sie ihn gelegentlich erinnern. Bis anhin hatte er Johanna geschnitten, wo er nur konnte. Weil sie eine Quereinsteigerin war, die über ein Frauenförderungsprogramm zur Polizei gekommen war. Und weil sie aufmüpfig war. Zu selbstbewusst für eine Frau. Für eine Quotenfrau erst recht.
Als lese er Johannas Gedanken, wurde von Kranach ernst. »Der Gegenstand unserer Ermittlung ist vertraulich. Offiziell wirst du für die Dauer der Untersuchung von der Front abgezogen und als Sachbearbeiterin bei der Kripo eingesetzt.«
Es war ihr, als überlege er einen Augenblick, ob er noch mehr sagen wolle.
»Gemäß meiner Einschätzung wird es wegen deines Unfalls eine Strafuntersuchung durch die Staatsanwaltschaft geben. Ich hoffe, du bist dir
Weitere Kostenlose Bücher