Die Stunde der Wahrheit
Nadeln befestigte. Das Obergewand wurde vorn mit einer Reihe schmaler Schleifen zugebunden, verbarg aber dennoch die weiße Bandage an dem verletzten Oberarm. Mara prüfte Nacoyas Geschmack, schickte dann Misa mit einem kurzen Nicken fort und ging zur großen Halle, wo Nacoya während ihrer Abwesenheit den Gast unterhielt.
Der junge Sohn der Kehotara erhob sich und verneigte sich bei ihrem Eintreten. Er trug einen kostbaren Umhang mit Saphiren, und die hoch angesetzten Säume und Ärmel brachten seine Arme und Beine außerordentlich gut zur Geltung.
»Bruli, wie angenehm, Euch wiederzusehen.« Mara setzte sich auf die Kissen dem jungen Mann gegenüber, amüsiert über sein verändertes Erscheinungsbild. Er sah gut aus. Sie dachte im stillen darüber nach, wie viele der jungen Ladies geschmeichelt, ja sogar erpicht darauf wären, im Mittelpunkt des Interesses dieses Bewerbers zu stehen. Sein Lächeln strahlte hell, und er hatte einen unleugbaren Charme. In gewisser Weise war es.schade, daß er in einem edlen Haus aufgewachsen war, denn er hätte nur zu leicht ein Meister in der Ried-Welt werden und sich eines Tages zurücklehnen können, nachdem ihn die Belohnungen der reichen Klientinnen, mit denen er seinen Charme geteilt hatte, zu einigem Wohlstand gebracht hätten.
»Mylady, ich bin erfreut, Euch wiederzusehen.« Bruli nahm Platz; er schob seine Sandalen sorgfältig unter die Waden. »Ich hoffe, das Geschäft mit Eurem Nachbarn verlief gut?«
Mara nickte abwesend. »Es ging nur um eine kleine Summe, die Jidu meinem verstorbenen Lord Buntokapi schuldete. Wir haben die Angelegenheit bereinigt.«
Interesse blitzte kurz in den Augen des jungen Mannes auf – ganz im Gegensatz zu seinem trägen Gesichtsausdruck. Mara erinnerte sich daran, daß Bruli möglicherweise selbst ein Spion der Minwanabi war, und sie lenkte das Gespräch auf ein unverfänglicheres Thema. »Mein Ausflug heute morgen hat mich erschöpft. Wenn Ihr mir Gesellschaft leisten wollt, werde ich Wein und Kekse in den Garten bringen lassen.« Sie ließ ihrer Taktik Zeit, sich zu entfalten, dann griff sie nach der einfachsten Ausrede. »Ich werde Euch dort treffen, sobald ich ein bequemeres Gewand angezogen habe.«
Nacoya nickte kaum merklich und bestätigte damit, daß Maras Verzögerung angemessen war. Der junge Bewerber verbeugte sich. Während eine Dienerin ihn hinausführte, eilte die Erste Beraterin der Acoma an die Seite ihrer Herrin. Ihre gewöhnlich griesgrämige Art war jetzt echter Besorgnis gewichen. »Konnten die Cho-ja Eure Schmerzen lindern?«
»Ja.« Mara zupfte an ihrem Gewand herum. »Und nun, Mutter meines Herzens, erkläre mir bitte, was dieser dumme Tand mit unseren Plänen für den jungen Bruli zu tun haben soll?«
Nacoyas Augen weiteten sich vor boshafter Freude. »Ah, Mara-anni, Ihr habt noch viel über die Männer zu lernen!« Sie nahm ihren Schützling fest an der Hand und führte sie ihn ihre Gemächer. »An diesem Nachmittag müßt Ihr Euer Bestes geben, um so verführerisch wie möglich zu sein, Mylady Ich habe entsprechende Gewänder ausgewählt, die Ihr nach dem Bad anziehen sollt.«
Nacoya schritt über die Schwelle; sie versprühte die Aufregung einer Person, die an einer Verschwörung teilnimmt. Mara hörte, wie Dienerinnen hinter der kleinen Trennwand das Badewasser einfüllten, und sie sah verschiedene Kleidungsstücke hübsch ordentlich auf der Schlafmatratze ausgebreitet. Mara betrachtete die Auswahl ihrer Vertrauten mit skeptischem Blick. »Nacoya, es scheinen einige Teile zu fehlen.«
Nacoya lächelte. Sie nahm die dürftige Salonrobe auf, die gewöhnlich von den Ladies in ihren privaten Gemächern getragen wurde. Nacktheit war an sich kein gesellschaftliches Problem. Erwachsene und Kinder beider Geschlechter badeten zusammen, und nur ein kleiner Lendenschurz war zum Schwimmen erwünscht.
Doch wie bei allen Dingen, die mit dem Werben zusammenhingen, war auch das Verführen ein Zustand des Geistes. Wenn sie dieses winzige Stückchen Stoff im Garten in der Gegenwart eines Fremden trug, so war das weitaus reizvoller, als wenn sie nackt mit ihm schwimmen gehen würde.
Nacoya strich mit ihren kalten Fingern über das gazeartige Material. Sie blieb vollkommen ernst. »Wenn mein kleiner Plan funktionieren soll, muß Bruli von mehr angetrieben werden als nur dem Wunsch, seinen Vater zufriedenzustellen. Wenn er Euch begehrt, wird er Dinge tun, die er sonst niemals in Betracht ziehen würde. Ihr müßt Euch so
Weitere Kostenlose Bücher