Die Stunde der Wahrheit
»Mistress, die Frauen haben wenig Mittel, über ihr eigenes Leben zu bestimmen. Ihr habt das seltene Glück, eine Herrscherin zu sein. Der Rest von uns lebt von der Gnade unserer Lords und Ehemänner oder Väter, und was Ihr gerade eingesetzt habt, ist die mächtigste Waffe, die uns zur Verfügung steht. Fürchtet den Mann, der eine Frau nicht begehrt, denn für ihn werdet Ihr nur Werkzeug oder Feindin sein.« Leicht hämisch tätschelte sie Maras Schulter. »Doch unser junger Pfau ist hinüber, denke ich, was den Auftrag angeht, den er im Dienste seines Vaters ausführen sollte. Und jetzt werde ich mich beeilen, um ihn noch im Hof anzutreffen, bevor er fortgeht. Ich möchte ihm ein paar Vorschläge machen, wie er Euch gewinnen kann.«
Mara blickte der energisch davoneilenden Frau hinterher; die Haarnadeln rutschten bedenklich auf die linke Seite. Sie schüttelte den Kopf über die Verrücktheiten ihres Lebens und fragte sich, was Nacoya diesem dummen jungen Bewerber von den Kehotara wohl raten würde. Dann beschloß sie, darüber in einem heißen Bad weiter nachzudenken. Sie war etwas erschöpft von den Versuchen, Bruli mit der absichtlichen Zurschaustellung ihrer weiblichen Reize zu entflammen.
Fünf
Verführung
Der Junge riß die Augen weit auf.
Er saß auf seiner Matte vor dem äußeren Fensterladen und wandte sich mit einem fragenden Blick an seine Herrin. Der Junge arbeitete noch nicht lange als Läufer, und Mara nahm an, daß sein Gesichtsausdruck auf eine beeindruckende Ansammlung von Neuankömmlingen im Hof hindeutete. Sie entließ die neuen Krieger, die erst an diesem Morgen rekrutiert worden waren. Sie nahmen ihre Bögen auf, und als ein Diener eintraf, um sie zu ihren Baracken zu führen, wandte sie sich an den Läufer. »Ist es Bruli von den Kehotara?«
Der Sklavenjunge, jung und noch leicht zu beeindrucken, nickte rasch. Mara streckte sich kurz zwischen den Stapeln aus Pergamentrollen und Schriftentafeln und stand auf. Dann starrte auch sie überrascht nach draußen. Bruli näherte sich dem großen Haus in einer offensichtlich neuen Sänfte, deren reiche Verzierungen aus Perlenschnüren und Muscheleinlegearbeiten in der Morgensonne glänzten. Er trug aufs feinste bestickte Seidengewänder, und kleine Saphire glitzerten auf seiner Kopfbedeckung und betonten die Farbe seiner Augen. Doch damit war die Eitelkeit des Sohnes der Kehotara längst noch nicht zu Ende. Bruli hatte die Sänftenträger so ausgewählt, daß sie nach Größe und körperlicher Vollkommenheit zusammenpaßten; keiner von ihnen schien mitgenommen und zerlumpt, keinem war die Mühsal und Plage seiner Arbeit anzusehen. Diese Sklaven wirkten wie junge Götter, und ihre schlanken, muskulösen Körper waren eingeölt wie die von Athleten. Mara fühlte sich an die Aufführung eines Kindertheaters erinnert. Ein ganzes Dutzend Musiker begleitete die Ehrengarde der Kehotara. Sie spielten laut und kräftig auf den Hörnern und Viellen, während Bruli seine Ankunft zelebrierte.
Verwirrt bedeutete Mara einer Sklavin, die Schriftrollen wegzuräumen, während Misa half, ihr Aussehen etwas aufzufrischen. Da war Nacoya wieder am Werk gewesen. Dreimal hatte die Erste Beraterin den Jungen wieder weggeschickt, hatte ihn vor der ungeduldigen Reaktion ihrer Herrin gewarnt, sollte ein Bewerber nicht seinen Reichtum als Zeichen seiner Leidenschaft zur Schau stellen. Zweimal hatte Bruli mit Mara zusammen im Garten gegessen, und sie hatte sich wieder wie ein Stück Fleisch in der Auslage einer Metzgerbude gefühlt. Doch jedes Mal hatte sie bei einem seiner dummen Witze gelacht oder Überraschung vorgetäuscht, wenn es um eine Enthüllung über den einen oder anderen Lord im Hohen Rat ging. Bruli war aufrichtig zufrieden; er schien vollkommen entflammt zu sein. Bei ihrem letzten Treffen hatte Mara ihm gestattet, seine Leidenschaft durch einen kurzen Abschiedskuß auszudrücken, doch als sich seine Hände um ihre Schultern schlossen, löste sie sich geschickt aus seiner Umarmung. Er hatte flehende Worte hinterhergerufen, während sie durch die Tür gehuscht war und ihn verwirrt und erregt im vom Mondlicht gesprenkelten Garten zurückgelassen hatte. Nachdem Nacoya ihn zur Sänfte geleitet hatte, kehrte sie mit der Gewißheit zurück, daß die Enttäuschung dieses jungen Mannes seine Begierde nur noch verstärkte.
Mara legte einen betörenden Duft auf und befestigte kleine Glöckchen an den Handgelenken, dann schlüpfte sie in ein schamlos knappes Gewand,
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