Die Stunde der Zaem
Lächeln huschte über Riis Züge.
»Ich ahnte es«, gestand sie. »Vom ersten Moment an, da ich dich sah. Wir wissen, daß der Sohn des Kometen kommen wird, um Fronja zu retten. So wurde es prophezeit, und so wird es auch geschehen.«
Das Alter der Maid war schwer zu schätzen - fünfundzwanzig Sommer vielleicht. Obwohl ihr Körper voll erblüht und überaus begehrenswert erschien, wirkte sie irgendwie von kindlicher Unschuld. Ihr weißes Kleid, aus durchsichtigen Stoffen gewirkt, verbarg nicht sehr viel und ließ Mythors Herz schneller schlagen. Er war zu sehr Mann, als daß er sich vor diesem Anblick hätte verschließen können.
»Ich bin tatsächlich gekommen, um Fronja beizustehen«, sagte er. »Aber ich bedarf deiner Hilfe.«
Ungläubiges Erstaunen zeichnete sich in ihren Augen ab. Sie bat er um Hilfe, ausgerechnet sie, wo es Hunderte anderer Jungfrauen gab. Nicht zu überhörender Stolz schwang in ihrer Stimme mit, als sie antwortete:
»Was soll ich tun?«
»Führe mich und erzähle mir, was du weißt.«
Wortlos ergriff sie seine Hand und eilte vor ihm die Treppe hinab, daß er Mühe hatte, ihr zu folgen.
»Wir müssen uns beeilen«, sagte sie. »Wer zu lange auf diesen Stufen weilt, wird nie den Weg zurück finden.«
Mythor glaubte, erneut an einer bestimmten Stelle vorüberzukommen. Die Sicht, die sich ihm von hier aus bot, war so bezeichnend, daß er sich kaum irren konnte. Er sah das Bauwerk, in dessen Räumen er gegessen und sich ausgeruht hatte, in seiner vollen Ausdehnung vor sich liegen; im Hintergrund war das gelbe Leuchten des inneren Kreises, hell wie der Schein der aufgehenden Sonne über Vanga. Davor zwei weitere kleine Gebäude mit zerbrechlich wirkenden Türmchen und geschwungenen Erkern. Auch sie mochten aus gefrorenem Licht bestehen, denn ihr Inneres lag nahezu offen vor ihm.
Auf jeden Schritt achtete Mythor, damit ihm nicht entging, in welcher Weise Rii die endlose Treppe verließ. Trotzdem fiel es ihm nicht auf, denn von einem Augenblick zum anderen standen sie unter einer in reinem Weiß erstrahlenden Kuppel, die von zwölf mächtigen Säulen getragen wurde.
Rii ließ seine Hand los und wandte sich zu ihm um.
»Wir sind wieder auf der Lichtinsel«, sagte sie. »Die Treppe ins Nichts hat uns freigegeben.«
»Zu welchem Zweck wurde sie geschaffen?«
»Es gibt mehrere solcher Bauten, die ungebetene Besucher fernhalten sollen.«
Mythor nickte verstehend.
»Ist es schon vorgekommen, daß sich jemand Fronja in unlauterer Absicht genähert hat?«
Rii tat, als hätte sie nicht gehört.
»Du sagtest vorhin, daß sie schläft«, bohrte der Sohn des Kometen weiter.
»Die Tochter des Kometen wacht nur sehr selten auf, und meist nur für kurze Zeit. Unsere Aufgabe ist es, ihr dann zu dienen.«
»Wie kann die Erste Frau ein solch großes Reich wie Vanga im Schlaf regieren?« Mythor nahm Rii an den Schultern und setzte sie auf den breiten Sockel einer der Säulen. Er selbst blieb vor ihr stehen, stellte seinen linken Fuß auf den Sockel und verschränkte die Arme. So blickte er sie durchdringend an. Rii ließ ihn ebenfalls nicht aus den Augen.
»Fronja schickt ihre Träume, die wichtiger sind als jedes gesprochene Wort«, erklärte Rii. »Die Zaubermütter wollen es so.«
Nach und nach kristallisierte sich für Mythor ein klares Bild heraus. Die Maid beantwortete seine Fragen, so gut sie konnte. Aber sie wußte nur wenig, meist Dinge von allgemeiner Bedeutung, die er auch anderweitig hätte erfahren können. Wann und wie Fronja nach Vanga gekommen war und vor allem, welche Macht sie als Tochter des Kometen besaß, darüber schwieg Rii beharrlich.
Für Mythor schien es bald klar, daß Fronja von den Zaubermüttern absichtlich in einem fortwährenden Tiefschlaf gehalten wurde. Allein ihre Träume waren ihnen wichtig - und sie selbst in erster Linie nur deshalb, weil sie diese Träume hatte.
Und noch etwas fand er heraus:
Die Erste Frau Vangas erfüllte ihre Aufgabe seit langer Zeit. Dabei hatte sie, während Generationen kamen und gingen, ihre jugendliche Frische nie verloren. Fronja alterte ausschließlich in den Wachperioden, was der Grund dafür war, daß sie selten geweckt wurde. Besaß sie demnach eine Art relativer Unsterblichkeit?
Mythor schreckte aus seinen Gedanken hoch. Er sah Rii an, aber er nahm sie nicht wahr.
Hatte er einen unverzeihlichen Fehler begangen, als er das immerwährende Leben verschenkte?
Sich ein Dasein an Fronjas Seite vorzustellen, während sie
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