Die Stunde der Zeitreisenden: Hourglass 1
weiter. Auf lässige Weise sexy, aber keine bestimmte Stilrichtung. Ich konzentrierte mich auf sein Gesicht. Glatt rasiert, doch ich ahnte, dass sich spätestens um fünf Uhr nachmittags auf seinem Kinn ein deutlicher Bartschatten zeigen würde. Beneidenswert geschwungene Brauen setzten seine Augen in Szene. Der olivfarbene Teint ließ auf mediterrane Vorfahren schließen, und die hohen, kräftigen Wangenknochen verliehen seinen Gesichtszügen Charakter. Nur sein auffallend großer Mund fiel aus dem Rahmen. Seine vollen Lippen brachten mich aus der Fassung.
Ich hoffte wirklich sehr, dass er lebendig war.
Energisch rief ich mich zur Vernunft. Was machte ich da nur? Lippen standen nicht auf meiner Checkliste. Außerdem war es ganz und gar nicht meine Art, Jungs anzustarren, selbst wenn sie noch so gut aussahen. Doch nach seinem leichten Grinsen zu urteilen hatte ich anscheinend soeben gegen meine Prinzipien verstoßen. Hastig quälte ich mich wieder in meine hochhackigen Folterinstrumente und schaute mich suchend nach Thomas und Dru um, konnte sie jedoch nirgends entdecken. Ich blickte wieder zu dem Typen im Smoking, der direkt auf mich zukam.
Nichts wie weg. Als ich mein Glas auf dem Klavier abstellen wollte, sah ich erschrocken, wie es hindurchfiel und auf dem gefliesten Boden in tausend glitzernde Scherben zersprang.
Augenblicklich tauchte mein Bruder neben mir auf. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Nein. Es sei denn, du siehst ebenfalls ein Jazztrio?«, sagte ich hoffnungsvoll.
»Nein, ich sehe keins.«
»Dann kann ich definitiv sagen, dass mit mir gar nichts in Ordnung ist.« Die Phantommusiker spielten unbeirrt weiter. Ich hatte nicht versucht, mit ihnen in körperlichen Kontakt zu treten. Das war wahrscheinlich der einzige Grund, warum sie nicht verschwunden waren.
Nicht nur einer, sondern drei auf einmal? Und ein Flügel ? Ich hatte noch nie zuvor eine ganze Szenerie gesehen. Plötzlich fiel mir das Atmen schwer. »Ich brauche frische Luft!«
»Wenn Sie uns bitte entschuldigen würden.« Thomas lächelte die realen Leute an, die in unserer Nähe standen, bevor er als perfekter Gastgeber seiner leicht hysterischen Schwester Beistand leistete. Er führte mich durch den Saal, und währenddessen gab ich mir alle Mühe, so zu tun, als würde ich die neugierigen Blicke der Umstehenden nicht bemerken. Wir traten auf die Terrasse, auf der sich glücklicherweise niemand aufhielt, da es sich nach dem Regenguss merklich abgekühlt hatte.
Ich holte tief Luft, um mich ein wenig zu beruhigen. »Wie viele alte Häuser planst du noch zu öffentlichen Gebäuden umzubauen? Nur damit ich mich gefühlsmäßig darauf vorbereiten kann.«
Gott sei Dank lebten wir nicht in Europa. Dort mussten ganze Heerscharen von Toten aus einer Unzahl vergangener Jahrhunderte herumspazieren. In den USA hatte ich es nur mit ein paar Generationen von Leuten zu tun, die man mit heute lebenden Menschen verwechseln konnte. Als Thomas und Dru einen Ausflug zum alljährlichen Cherokee-Indianerfest in North Carolina vorschlugen, habe ich mich schlichtweg geweigert mitzukommen. Bloß keine Nachstellungen historischer Ereignisse. Niemals.
»Ich kann nicht fassen, dass es so schlimm ist«, sagte Thomas und tätschelte meinen Arm, um mich zu trösten. Ich schüttelte nur den Kopf. Jetzt war nicht der richtige Augenblick, ihm die Wahrheit über meine Medikamente zu gestehen, denn in diesem Augenblick kam der Typ im Smoking durch die zweiflügelige Glastür nach draußen geschlendert.
»Siehst du ihn?« Ich hielt mir die Hände vors Gesicht und spähte vorsichtig durch meine zitternden Finger, starr vor Schreck bei der Vorstellung einer weiteren Vision, die so schnell auf das Jazztrio folgte.
»Wen soll ich sehen?«
»Ihn.« Ich gab Thomas ein Zeichen, sich umzuschauen. Wenn der Smokingtyp kein Mensch aus Fleisch und Blut war, würde ich um eine erneute Einweisung in die Psychoklinik bitten.
»Ja, ich sehe ihn.« In Thomas’ Stimme schwang Erleichterung mit. »Das ist Michael.«
»Wer ist Michael?«
»Er ist der neue Berater, von dem ich dir erzählt habe.«
4. KAPITEL
A us der Nähe sah der Smokingtyp sogar noch besser aus: groß, breitschultrig, glatte Haut – und diese Lippen! Ich konnte nicht glauben, dass er für ein Unternehmen namens Hourglass arbeitete. Fünfzigjährige Brillenträger mit Bierbäuchen sollten dort arbeiten. Kein Prinz, der zu schön war, um sich unter das gemeine Volk zu mischen. Er konnte nicht viel älter
Weitere Kostenlose Bücher