Die Stunde der Zeitreisenden: Hourglass 1
wäre das vielleicht genauso effektiv wie Schafezählen. Ich konnte versuchen, sie über einen Zaun und raus aus meinem Kopf springen zu lassen.
War Kaleb wirklich so wahllos, wenn es um Mädchen ging, wie Michael mir weismachen wollte? Bei unserem Gespräch hatte er so aufrichtig gewirkt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er all diese Dinge irgendeiner x-beliebigen Zufallsbekanntschaft anvertrauen würde, schon gar nicht die traurige Geschichte seiner Eltern. Er mochte gern flirten, aber er schien mir ehrlich zu sein. Bis zu dem Anruf des Kussmundmädchens. Seine Art zu antworten hatte ihn zum Aufreißer abgestempelt.
Und dann noch Michaels Ermahnungen …
Ich hielt mir das Kissen über den Kopf und stieß einen Frustschrei aus.
»Emerson!«
Das Wort ertönte laut und deutlich direkt an meinem Ohr. Ich schluckte meinen Schrei herunter, setzte mich auf und presste mir das Kissen vor die Brust. Erst als ich einen Moment lang in die Richtung gestarrt hatte, aus der die Stimme gekommen war, konnte ich die Gestalt ausmachen, die neben meinem Bett stand, was jedoch zur Folge hatte, dass ich am liebsten weitergeschrien hätte.
Jack.
»Nicht jetzt«, stöhnte ich und kniff die Augen zu. Ein paar Sekunden später öffnete ich sie wieder und hoffte, dass er verschwunden war.
Aber so viel Glück hatte ich nicht.
»Geht es dir gut?«
Ich seufzte.
»Hast du deinen jungen Mann gefunden? Die Antworten bekommen, die du gesucht hast?«
»Meinen jungen Mann? Oh, ich hab ihn gefunden«, brummte ich. »Und als ob ein dummer Junge noch nicht genug wäre, hab ich auch noch seinen besten Freund gefunden.«
»Lass mich raten«, sagte er und lächelte verständnisvoll. »Sie streiten sich um dich?«
»Ja. Nein! Ich weiß es nicht.« Ich drückte mein Gesicht ins Kissen und antwortete mit gedämpfter Stimme. »Es ist eine Art … Wettbewerb, völlig überflüssig. Ich würd sie am liebsten zusammen in einen Sack stecken und … und …«
»Was denn?«
»Draufhauen, bis ihnen Hören und Sehen vergeht.«
Er ließ sein volltönendes, weiches Lachen ertönen. »Komm schon. Du bist doch sicher daran gewöhnt, dass sich Jungs um dich streiten.«
»Nein, bin ich nicht«, sagte ich ein wenig geschmeichelt. »Woher bist du gekommen? Ich dachte, du wärst fort.«
Jacks Lachen erstarb, und es wurde fast unerträglich still im Raum.
»Ich hab dich gestern gesucht. Wo warst du? Nein, vergiss das.« Ich setzte mich auf und sah ihn an. Seine Augen hatten immer noch dieses seltsame Blau, wenn auch ein wenig heller, und sie starrten durch mich hindurch. Ich hielt mir das Kissen vor die Brust und war mir mit einem Mal sehr bewusst, wie wenig ich anhatte. »Was bist du?«
»Das ist eine merkwürdige Frage.«
»Eigentlich nicht.« Ich zog die Bettdecke ein bisschen höher. »Immer wenn ich Zeitlose berühre, verschwinden sie. Du bist nicht verschwunden.«
»Was sind Zeitlose?«, fragte er und musterte mich belustigt.
»Das, was du bist. Das, wofür ich dich halte .« Ich schüttelte genervt den Kopf. Er trug immer noch denselben schwarzen Anzug mit der Weste. Es gab keinen definitiven Hinweis auf die Zeit, in die er gehörte. Nicht mal sein Haarschnitt ließ irgendwelche Schlüsse zu. Er trug keine Ringe an den Fingern. Keine sichtbaren Anhaltspunkte, die auf eine bestimmte Ära hindeuteten, abgesehen von der Taschenuhr, die auf eine gemächlichere Zeit deutete. »Du kommst aus der Vergangenheit. Stimmt’s?«
Er nickte.
»Ich weiß nicht, warum du hier bist, Jack.« Ich beugte mich ein wenig vor und fragte mich, was passieren würde, wenn ich ihn berührte. Er musste meine Gedanken ahnen, dennoch blieb er still stehen. »Warum tauchst du immer wieder auf?«
»Für dich.«
»Wie bitte?« Die Klimaanlage schaltete sich ein und blies kalte Luft auf meine nackten Arme.
»Ich fühle mich … mit dir verbunden. Ich kenne alle rätselhaften Wendungen, die das Schicksal nehmen kann. Ich wünschte, ich könnte dich davor beschützen.«
»Das ist unmöglich.« Ich rieb mir fröstelnd die Arme und fragte mich, ob die Kühle eher auf Jack als auf die Klimaanlage zurückzuführen war.
»Das glaubst du, nicht wahr? Du bist so einzigartig. So unschuldig.« Bei dem Blick, mit dem er mich anschaute, fühlte ich mich alles andere als unschuldig und wünschte mir, dass Thomas und Dru da wären. »Das Leben ist voller Entscheidungen. Manche sind weniger eindeutig als andere.«
Ich presste das Kissen fester an meine Brust. »Das ergibt
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