Die Stunde der Zikaden
schlagen? Mindestens jeder Zweite, den er kannte, hatte einen Nebenjob, der manchmal mehr, meistens weniger ehrenvoll war. Ums Überleben ging es in diesem Land, ums nackte Überleben!
Ernesto Orecchio war kein besonders anspruchsvoller Mensch, aber wenn er die Villen in Il Bosco betrachtete, die er mit dem Gewehr bewachte, dann kam ihm schon manchmal die Galle hoch, und er fragte sich, woher die alle so viel Geld hatten. Paläste für ein paar Wochen im Jahr. Schweizer waren dabei, ein paar Deutsche, aber die meisten waren Italiener. Konnte ihm ja egal sein. Aber seine Gedanken machte er sich trotzdem. Früher war er Kommunist gewesen. Jetzt nicht mehr. Half ja alles nichts. Die fünfhundert Euro pro Monat machten jedenfalls sein Leben erheblich leichter. Manchmal gab es zwei Lieferungen im Monat, dann gab es noch was extra.
All das ging ihm durch den Kopf, als er sich durch die verkeilten Zweige zur Vordertür des Wagens durcharbeitete. Noch immer rührte sich nichts. Orecchio richtete seine Taschenlampe auf die Fahrertür und prallte zurück, als sich ihm ein blutüberströmter Kopf entgegenreckte. Jetzt erst sah er, dass ein dicker Ast die Frontscheibe des Fahrzeugs zerschmettert hatte. Er steckte die Taschenlampe weg und versuchte mit beiden Händen die Fahrertür zu öffnen. Sie klemmte.
«Lass es!»
Orecchio erstarrte und taumelte einen Schritt zurück.
«Was?»
«Lass es! Du kriegst die Tür nicht auf. Kümmer dich um die Ladung. Schaff sie weg und versteck sie. Wenn das erledigt ist, kannst du die Feuerwehr rufen. Nicht die Polizei, die Feuerwehr! Kapiert?»
Wieso hörte er den blutigen Schädel so deutlich? Orecchio wischte sich das Regenwasser aus den Augen und knipste wieder seine Taschenlampe an. Das Seitenfenster war offen.
«Bring mir ’n Handtuch oder so was. Beeil dich! Das Zeug muss aus dem Wagen, ehe die es finden! Und mach die verdammte Lampe aus!»
Orecchio machte sie aus. Der Blutige stöhnte. Halbblind kroch Orecchio aus den Zweigen, ratschte sich dabei die Wange auf. Er rannte zum Wärterhaus zurück, riss zwei frische Handtücher aus dem Schrank und war schon wieder beim Wagen. Auch die Hand, die sich ihm aus dem Seitenfenster entgegenstreckte, war blutig. Orecchio schaute weg.
«Mach schon! Der Kofferraum ist offen! Es muss schnell gehen, verstehst du!»
Kannte er die Stimme? Orecchio tastete sich am Wagen entlang nach hinten, etwas wischte scharf über seine Stirn. Zum Glück klemmte die Heckklappe nicht. Als Orecchio sie nach oben drückte, schlug sein Herz wieder dumpf gegen seine Rippen. Er schluckte hart, inmitten dieser Sintflut fühlte sich seine Kehle schmerzhaft trocken an.
Die Ladefläche des Kombi war nur halbvoll. Orecchio schob die dunkle Plane zurück und starrte auf den Haufen großer und kleiner Pakete. Er hatte nicht die geringste Vorstellung, wo er die Sachen verstecken sollte.
«Los, mach schon!» Der Fahrer stöhnte.
Orecchio griff nach dem ersten Paket und trug es zum Haus hinüber. Es war nicht besonders groß, aber so schwer, als hätte es jemand mit Steinen aufgefüllt. Vor der Tür blieb er ratlos stehen. Im Haus konnte er die Sachen nicht verstecken. Um sechs würde Fabrizio zur Ablösung auftauchen und wahrscheinlich nicht nur er. Unter einem Busch? Auch das erschien Orecchio zu riskant. Außerdem würden die Kartons nass und weich werden. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Pakete eins nach dem andern in seinem kleinen Fiat zu verstauen. Bis unters Dach. Sie machten ihm Angst, diese Pakete, denn er war ganz sicher, dass es sich bei ihrem Inhalt nicht um Geheimdokumente handelte.
«Alles draußen!», keuchte er endlich. «Ich ruf jetzt die Feuerwehr!» Er wartete kurz auf eine Antwort, aber es kam keine. Orecchio schaute nicht nach, kehrte in das Häuschen zurück und tippte die Notrufnummer in sein Handy. Als die Zentrale ihm erklärte, dass es mindestens eine Stunde dauern würde, bis ein Einsatzwagen in Il Bosco einträfe, da verlor er zum ersten Mal die Nerven und schrie, dass ein Schwerverletzter unter einem Baum begraben sei. Sie versprachen, bald zu kommen.
Danach fuhr Orecchio seinen Fiat in die Auffahrt einer Villa, deren Besitzer längst abgereist waren. Äste knackten unter den Reifen des Autos, ein Baum neigte sich so gefährlich, dass er gerade noch unter ihm hindurchfahren konnte. Das Versteck war gut, sehr gut sogar. Vom Hauptweg aus konnte man nichts sehen. Eine hohe Hecke versperrte die Sicht. Fabrizio würde vielleicht
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