Die Stunde des Löwen
die Kamera grinste, war sein Onkel. Die beiden rechts â ein Hagerer mit kantigen Gesichtszügen und ein Untersetzter, der eine Art Kaiser-Wilhelm-Backenbart zur Schau trug â hatte er noch nie gesehen. Der zweite Jäger von links jedoch, der lässig seine Büchse schulterte, war zweifellos Hugo Bruckner. Demnach hatte es auch eine private Verbindung zwischen dem Bestatter und seinem Onkel gegeben. Die wiederum eine Erklärung dafür sein konnte, weshalb Bruckner zur Lösung seines Erpressungsproblems einen Detektiv aus dem fernen Odenwald engagiert hatte.
Neugierig, ob sich auf der Rückseite ein Hinweis befand, wo und wann die Aufnahme gemacht worden war, fummelte Fremden das Bild aus dem Rahmen. Und tatsächlich: Auf dem leicht fleckigen Fotopapier stand in der Handschrift seines Onkels: »2003 â Vier Freunde in Moldawien bei der Jagd« . Als »Freunde« hatte der Onkel die Jagdgesellschaft tituliert. Und dennoch hatte sich Hugo Bruckner ihm gegenüber zwei Jahre später in puncto Erpressung äuÃerst verschlossen gezeigt.
Sich eingestehend, dass ihn der Fall Bruckner auch wegen der diffusen Rolle seines Onkels immer stärker interessierte, betrachtete Fremden noch einmal die Bildseite des Fotos. Zwei der Jäger waren ihm unbekannt. Vielleicht, dachte er, bringt es mich weiter, wenn es mir gelingt, die beiden ausfindig zu machen. Und denjenigen, der das Foto geschossen hatte, falls es nicht mit Selbstauslöser gemacht worden war.
*Â *Â *
Azurblauer Himmel über dem Mittelmeer. Deutlich, als sei es gestern gewesen, konnte er sich an den Tag erinnern, an dem das Schicksal ihn die Wege der Bruckners kreuzen lieÃ. An diesem Morgen hatte eine sanfte Brise aus Südost die ersten fremdländischen Geräusche und Gerüche an Bord der MS Merdiva getragen, die gerade Kurs auf die marokkanische Küste nahm.
In der Gewissheit, dass ihn ein anstrengender Arbeitstag erwartete, hatte er seinen Dienst pünktlich um acht Uhr angetreten. Er war zur Gästebetreuung für den Landgang eingeteilt gewesen. Etwa eine Stunde nach dem Anlegen sollte ein Bus die angemeldeten Passagiere vom Hafen abholen und ins Zentrum von Agadir fahren. Viele waren das nicht. Ein GroÃteil der Reisenden fürchtete sich vor islamistisch motivierten Anschlägen. Die Erinnerung an die Angriffe auf das World Trade Center und das Pentagon war noch frisch. Ein anderer, wesentlich kleinerer Teil machte sich eher Sorgen, bei der überwiegend muslimischen Bevölkerung Marokkos nicht willkommen zu sein. Eine für ihn eher nachvollziehbare Befürchtung, genährt durch die martialische Rhetorik, die die Bush-Regierung in jenen Wochen und Monaten in der arabischen Welt angeschlagen hatte.
Bei seinem Kontrollgang auf dem Sonnendeck hatte er sich gewundert, dass sich dort trotz des herrlichen Wetters nur eine Handvoll Passagiere aufhielt. Ein junges britisches Paar, das am folgenden Tag auf hoher See getraut werden sollte, lümmelte in Liegestühlen und blickte aufs Meer hinaus. Unweit davon machte ein sportlicher Mittvierziger Tai-Chi-Ãbungen. Und dann war da noch die in ein bodenlanges Kleid gehüllte Seniorin, die einen Zeichenblock in der Hand hielt und malte. Eine Rubensfrau, die ihm vorher schon einmal beim Lunch aufgefallen war, als sie ihren mit Hummerschwänzen vollgeladenen Teller vom Buffet zum Tisch balancierte.
An der AuÃentreppe hatte er sich an die Reling gestellt, den Krawattenknoten und den obersten Knopf seines Hemdes gelockert und die nach Salz schmeckende Seeluft eingeatmet. Einen Moment lang beobachtete er das Spektakel der über dem Schiff kreisenden Möwen. Dann lieà er seinen Blick an seiner schneeweiÃen Uniform herunterwandern. Das ständige Kontrollieren, ob sie auch richtig saÃ, war eine Marotte, die er sich erst einige Monate zuvor angewöhnt hatte. Früher hatte er das nicht getan. Obwohl er in seinem Leben schon einige Uniformen getragen hatte.
Auf einmal hatte er eine kräftige Windböe in seinem Rücken gespürt. Ein Bogen Papier flatterte aufs Meer hinaus. Ein lautes Geräusch an seiner Seite lieà ihn zusammenzucken. Geistesgegenwärtig hatte er zugegriffen. Gerade noch rechtzeitig, bevor die kopfüber auf die Treppe zurutschende Rubensfrau über Bord gestürzt war.
Die Belobigung des ersten Offiziers war vor versammelter Mannschaft erfolgt. Und auch die Bruckners sparten nicht mit
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