Die Stunde des Löwen
nichts an seine jüdische Religionszugehörigkeit. Vor ihnen stand kein in Schwarz gekleidetes Männchen mit Hut, Rauschebart und Schläfenlocken, wie sie es in einem Anflug von unterschwelligem Klischeedenken vielleicht erwartet hatte. Vielmehr trug Simon Patenstein ein auf Taille gearbeitetes hellbraunes Wolljackett zu einer anthrazitfarbenen Anzughose, und seine grau melierten Haare waren an den Schläfen ebenso sorgfältig gestutzt, wie die Wangen- und Kinnpartie rasiert war.
»Herr Patenstein«, sagte Mannfeld, nachdem sie sich vorgestellt und ausgewiesen hatten, »wir haben vorhin bereits kurz miteinander telefoniert. Wenn Sie ein paar Minuten Zeit für uns haben, würden wir uns gern noch etwas ausführlicher mit Ihnen über Selma Tassen unterhalten.«
Wie auf Kommando füllten sich die Augen des Antiquitätenhändlers mit Tränen.
»Es tut uns leid, dass wir Ihnen das nicht ersparen können, aber â«
»Stellen Sie ruhig Ihre Fragen«, unterbrach sie Simon Patenstein und trocknete seine Wangen mit einem Taschentuch.
»In welcher Beziehung standen Sie zu der Verstorbenen?«
»Ich habe Selma verehrt. Seit unserem Kennenlernen in der Oper trafen wir uns regelmäÃig.«
»Bei Ihnen oder bei ihr?«
»Weder noch. Bis auf wenige Ausnahmen gingen wir aus.«
Mannfeld überlegte einen Moment, ob sie an diesem Punkt nachhaken sollte, sagte aber stattdessen: »In der Wohnung von Frau Tassen sind wir auf eine Mitgliedskarte eines Fitnessstudios gestoÃen. Ging sie regelmäÃig zum Sport?«
»Immer montagmorgens. Da finden die Kurse für Senioren statt.«
»War sie gestern auch dort?«
»Soviel ich weiÃ, ja. Sie wollte sich fit halten. Es war ihr enorm wichtig, in ihren Körper zu investieren, wie sie sich ausdrückte.«
»Unterhielten Sie eine intime Beziehung zu Frau Tassen?«, mischte sich Born plötzlich in die Befragung ein.
Simon Patenstein errötete und schüttelte den Kopf.
»Wissen Sie, wie das Verhältnis von Frau Tassen zu ihrem Stiefsohn war?«, beeilte sich Mannfeld, das Thema zu wechseln.
»Haben Sie denn noch nicht mit Milan gesprochen?«
Mannfeld verneinte, behielt aber für sich, dass ihnen an der Wohnung des angeblich erkrankten Tierpflegers nicht die Tür geöffnet worden war. Im Gegensatz zu ihr fand Born diesen Umstand nicht weiter verdächtig. Auch nicht, dass die Krankmeldung zufällig am Morgen nach dem Mord an der Stiefmutter erfolgt war. Fokussiert auf seine »Lovermord«-These, argumentierte er, dass man sich eben nicht aussuchen könne, wann man krank wurde. Und dass ein Kranker auch mal zum Arzt oder in die Apotheke müsse und deshalb nicht ständig zu Hause anzutreffen war.
»Distanziert«, sagte Simon Patenstein nach kurzem Ãberlegen. »Ich würde das Verhältnis der beiden als distanziert bezeichnen. Selma war kein sehr zugänglicher Mensch. Für mich war es auch nicht immer leicht mit ihr. Manchmal war sie von einem Moment auf den anderen kühl und abweisend. Ohne dass es einen Grund dafür gab.«
»Und wie ist Milan Tassen mit diesem Wesenszug klargekommen?«
»Nicht so gut. Er hatte schon genug daran zu knabbern, dass sich nach dem Tod seiner leiblichen Mutter niemand so recht um ihn kümmerte. Der Vater war ständig auf Geschäftsreise. Von einer der Reisen brachte er dann Selma mit. Doch anstatt dem Jungen das Gefühl von Geborgenheit zu vermitteln, machte sie den Fehler, ihn nach ihren Wertevorstellungen erziehen zu wollen.«
»Hat Ihnen das Frau Tassen erzählt?«
»Ja. Als wir einmal beim Italiener zu Abend aÃen. Da hat sie mir auch erzählt, wie es zum endgültigen Bruch zwischen ihr und dem Jungen kam. Milan war damals gerade mal fünfzehn. In den Sommerferien hat Selma ihn zu einem Kellnerpraktikum im âºFrankfurter Hofâ¹ angemeldet. Ohne ihn vorher zu fragen, ob er das überhaupt will. Die Tassens waren Duzfreunde des Hoteldirektors. Milan wollte lieber mit Klassenkameraden zum Zelten nach Frankreich fahren. Doch sie bestand darauf, dass er die Stelle antrat. Er sollte endlich lernen, dass man für die Annehmlichkeiten im Leben hart arbeiten muss.«
»Und? Hat er das Praktikum absolviert?«, fragte Mannfeld, als Simon Patenstein nicht mehr weitersprach.
»Angefangen hat er es. Aber dann muss beim Arbeiten irgendetwas Schlimmes vorgefallen
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