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Die Stunde des Löwen

Die Stunde des Löwen

Titel: Die Stunde des Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Köhl
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sein. Von einem auf den anderen Tag hat Milan das Praktikum hingeschmissen. Und sich danach komplett von seiner Stiefmutter abgewendet.«
    Â»Wann haben Sie Selma Tassen das letzte Mal gesprochen?«
    Â»Gestern, als sie anrief. Sie hat mir abgesagt, weil sie sich unwohl fühlte. Ursprünglich wollten wir im ›Holbein’s‹ essen gehen. Doch Selma hatte plötzlich Magenschmerzen. Mir ist unerklärlich, warum sie dann noch in dieses Hotel gefahren ist.«
    Â»Was haben Sie gestern Abend nach dem Anruf gemacht?«
    Â»Ich bin zu Hause geblieben und früh ins Bett gegangen.«
    Auf der Straße musste Mannfeld ein paarmal tief durchatmen, bevor sie sich in Richtung Parkplatz in Bewegung setzte.
    Â»Soso, ins ›Holbein’s‹«, brummte Born zu ihrer Rechten. »Dass die beiden einen romantischen Abend bei McDonald’s verleben wollten, hätte ich auch nicht gedacht.«
    Â»Unwohl hat sich Selma Tassen angeblich gefühlt.«
    Â»Das hat sie Patenstein zumindest vorgeflunkert. Das Hotelzimmer hatte sie ja schon am Nachmittag reserviert.«
    Â»So wie Patenstein das Verhältnis zwischen Stiefsohn und Stiefmutter schildert, könnte Milan Tassen als Täter in Frage kommen.«
    Â»Und das Motiv? Hass, weil er als Kind vernachlässigt wurde und die böse Stiefmutter ihm den Vater weggenommen hat?«
    Â»Möglich. Aber wir dürfen auch nicht außer Acht lassen, dass Patenstein versuchen könnte, uns einen Bären aufzubinden. Ich finde, er ist schwer einzuschätzen. Vielleicht ist er ja doch derjenige, den Selma Tassen im Hotel traf. Er hat kein Alibi.«
    Born blieb abrupt stehen und warf ihr einen belustigten Blick zu. »Womit wir wieder beim Thema Sex und bizarre Spielchen wären. Dass Patenstein keine intime Beziehung zu der Tassen hatte, nehme ich ihm allerdings ab. Es war ihm peinlich, als ich danach fragte.« Born legte eine kleine Pause ein, bevor er fortfuhr: »Wie wäre es stattdessen mit folgender Variante: Die Tassen verabredet sich mit dem großen Unbekannten. Patenstein bekommt davon Wind. Enttäuscht und wütend folgt er ihr ins Sheraton und legt sie um, noch bevor es zu dem amourösen Treffen kommen kann. Motiv: Eifersucht. Das würde auch erklären, weshalb sie vollständig bekleidet war. Patenstein kommt nicht damit klar, dass die von ihm Verehrte mit einem anderen ins Bett hüpft und ihm die kalte Schulter zeigt.«
    Â»Dann hätte aber dieser große Unbekannte die Leiche finden müssen.«
    Â»Glaub ich nicht. Wahrscheinlich wäre er einfach nur vor der verschlossenen Zimmertür gestanden und wieder abgehauen.«
    Â»Er hätte sich beim Portier gemeldet und sich erkundigt, ob Selma Tassen eingecheckt hat.«
    Â»Nicht, wenn die Beziehung geheim war. Weil er beispielsweise ein verheirateter Mann ist. Oder in der Öffentlichkeit steht. Oder weil er wesentlich jünger ist als Selma Tassen und sich dafür schämt.«
    * * *
    Nach seinem Eintreffen im Fachwerkhaus bestand Fremdens erste Amtshandlung darin, den Umschlag mit der Anzahlung im Spirituosenschränkchen hinter den Schnapsflaschen zu verstauen. Dann machte er sich – angeregt durch Klaus Bruckners Bemerkung, er habe früher schon einmal für seinen Vater gearbeitet – auf ins Arbeitszimmer. Auf halbem Weg dorthin hörte er ein leises Gluckern durch die Rohre wandern. Als er stehen blieb, um einen Moment lang dem Geräusch zu lauschen, drang auch noch das altersschwache Ächzen des Gebälks an sein Ohr.
    Im Arbeitszimmer brauchte er nicht lange zu suchen. Ein Ordner, auf dessen Rücken fein säuberlich der Name »Bruckner« geschrieben stand, lag auf dem untersten Boden im Regal hinter dem Schreibtisch. Die Staubschicht vom Deckel pustend, machte er es sich im Sessel am Fenster bequem.
    In dem Ordner waren lediglich drei DIN - A4 -Bögen abgeheftet. Angeleuchtet vom Schein der Stehlampe, wirkte das Papier alt und vergilbt. Das oberste Schriftstück war auf der alten Olympia-Schreibmaschine seines Onkels verfasst worden. Das W hatte nicht mehr richtig funktioniert. Der Buchstabe war nur noch als farbloser Abdruck zu erkennen.
    Laut der Aufzeichnungen hatte das erste Treffen zwischen Bruckner und seinem Onkel am fünfundzwanzigsten Juli 2005 in der Detektei stattgefunden. Als Fremden die ersten Zeilen der stichwortartigen Zusammenfassung überflog, zuckte er innerlich

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