Die Stunde des Löwen
auf Tomschak, der gerade seine Verwunderung darüber kundtat, dass das Opfer ohne Gepäck angereist war, verrichteten sie ihre Arbeit schweigend. Dr.  Neubauer, der Rechtsmediziner, hatte eine SMS geschickt, dass er aufgehalten worden war und später eintreffen werde.
»Na, schon lange da?«, hörte sie auf einmal Borns sonoren Bass in ihrem Rücken.
»Ein paar Minuten.« Sie drehte sich zu ihm um. »Und was ist mit dir? Probleme, den Weg zu finden?«
»Der Wagen«, brummte Born unwirsch. »Die verdammte Karre wollte bei der Kälte nicht anspringen. Musste erst jemanden zum Ãberbrücken finden.«
Die Story mit der streikenden Batterie mochte glauben, wer wollte. OutfitmäÃig bot Born das gewohnte Bild: ausgewaschene Jeans, Kapuzenpulli und ein dunkelgraues Kurzmäntelchen, das er â ganz gleich, ob es regnete, schneite oder warm war â von Oktober bis Mai trug und niemals zuknöpfte, weil das nur Weicheier taten. Seine schwarzen Haare waren mit Brillantine streng nach hinten gekämmt. So, wie es die Dons, Capos und Consiglieri in den Mafiafilmen zu tun pflegten. Als sie ihn einmal gefragt hatte, ob Andy GarcÃa vom Look her so etwas wie ein Vorbild für ihn sei, hatte er doch tatsächlich verschämt auf den Boden gesehen.
»Soso, der böse Wagen. Und zur Belohnung, dass du ihn doch noch fit bekommen hast, gabâs einen Kaffee bei Starbucks.« Mit einem Schmunzeln auf den Lippen deutete sie auf den Pappbecher in der rechten Hand ihres Kollegen. Der ignorierte den Kommentar.
»Wer ist das Opfer?«
»So weit bin ich noch nicht.«
»Und warum stehen der Tisch und der Stuhl in der Mitte des Zimmers?«
»Das, mein Lieber, fragst du mich jetzt hoffentlich nicht im Ernst.«
Born zuckte mit den Schultern und ging in die Hocke. Eine Bewegung, die trotz seines Bauchansatzes flieÃend und dynamisch wirkte. Auf ein schwarzes eingetrocknetes Klümpchen auf dem Teppich deutend, sagte er: »Und das hier? Das Zeug ist entweder letzte Nacht dahin gekommen, oder das Zimmermädchen verdient einen Rüffel.« Als er sich noch etwas weiter nach unten beugte und an dem Klümpchen schnupperte, rutschte ihm einer der Ohrstöpsel seines iPods aus dem Kragen. »Riecht fischig und sieht aus wie die Kacke von Mäusen.«
»Vielleicht Kaviar?«
»Könnte sein«, sagte Born. Mit einem breiten Grinsen richtete er sich wieder auf. »Vielleicht stieg hier ja letzte Nacht âne Russenparty.« Dass er seinen schalen Gag noch würzte, indem er die Melodie von Dschingis Khans »Moskau« summte, machte ihn nicht besser.
Seit Neuestem warf er ihr auch noch beifallheischende Blicke zu, wenn er dachte, eine besonders komische oder geistreiche Bemerkung gemacht zu haben. Dabei müsste er doch mittlerweile kapiert haben, dass sie die weltbesten Sprüche nach Dienstschluss serviert bekam.
»Null Einbruchsspuren an der Tür«, urteilte Born nach eingehender Betrachtung derselben und ging ein paar Schritte im Zimmer auf und ab. »Das Opfer muss den Täter also reingelassen haben.«
»Nicht zwangsläufig. Die beiden könnten den Raum gemeinsam betreten haben. Möglich ist aber auch, dass sich der Täter mit einer zweiten Schlüsselkarte Zutritt verschafft hat.«
»Das Bett sieht unbenutzt aus. Hast du schon mal einen Blick in die Handtasche geworfen?«
Auf ihr Kopfschütteln hin streifte er sich Einweghandschuhe über, griff nach dem kleinen Louis-Vuitton-Täschchen, das auf der Ãberdecke lag, und breitete den Inhalt auf einer Plastikfolie aus. »Das Ãbliche. Ausweispapiere, Schlüsselbund, Schminkutensilien.«
»Lippenstift und Lidschatten hat sie zum Zeitpunkt ihrer Ermordung allerdings nicht getragen.«
»Sie heiÃt Selma Tassen«, entnahm Born dem Personalausweis. »Geboren in Bergen in Norwegen. Gemeldet ist die Frau aber im Kettenhofweg.«
Auf Mannfelds innerer Leinwand tauchten die noblen und stilvollen Altbauten des Frankfurter Westends auf.
»In der Tasche befand sich weder ein Handy noch ein Flugticket«, hörte sie Born weiterreden. »Was hatte die Frau also hier in diesem Hotelzimmer am Flughafen zu suchen? Anscheinend wollte sie nicht mit dem Flugzeug verreisen. Ãbernachten wohl auch nicht. Sie wohnte nur wenige Kilometer von hier und hatte nicht einmal ein Nachthemd oder eine Zahnbürste dabei.«
»Gepäck,
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