Die Stunde des Raben
sie beide die Mädchen gesehen.
Rufus zog sich frische Sachen an und lief über den Gang zu No, der aber wie erwartet nicht da war. Er hatte ja gesagt, dass er zu Filine wollte.
Der Mädchentrakt lag zwei Rundungen höher an der Wendelrampe. Rufus war noch nicht häufig in Filines Zimmer gewesen. Irgendwie traute er sich nicht richtig, von sich aus zu ihr zu gehen. Mädchenzimmer unterschieden sich gewaltig von Zimmern, in denen ein Junge wohnte. In ihnen spiegelte sich irgendwie ihre Bewohnerin, während in einem Jungenzimmer immer mehr die Welt zu sehen war, in der der Junge gerade lebte, egal, ob es um Fußball, Bücher oder technische Apparate ging. Mädchenzimmer waren einfach … Mädchenzimmer. Bei Filine lagen auf ihrem goldenen ägyptischen Bett, das statt eines Kopfkissens eine halbmondförmige, hölzerne Kopfstütze besaß, eine Unzahl bunt bestickter, glitzernder Kissen. Außerdem hatte sie einen Kleiderständer, an dem verschiedene Stoffe hingen, mit denen sie ab und zu eine Wand oder das Fenster behängte, und an einer anderen Wand hingen riesige Zeichnungen mit den Hieroglyphen aus dem Palast der Anchetcheprure. Natürlich hatte sie auch einen Schreibtisch, sogar einen sehr modernen, großen mit vielen Schubladen und einer riesigen Arbeitsplatte. Dieses Zimmer war genauso gemütlich wie das von Rufus, nur auf eine ganz andere, hellere Art.
Rufus klopfte an die Tür. »Filine? No? Ich bin’s, Rufus. Seid ihr hier?«
»Ja«, kam Filines Stimme zurück.
»Störe ich euch? Kann ich reinkommen?«
Hinter der Tür hörte man zwei Stimmen heftig miteinander flüstern.
»Seid ihr in einer Flut?«, fragte Rufus. »Geht es um zwei Mädchen? Bitte, ich muss das wissen.«
Die Tür wurde geöffnet. Dahinter stand Filine und sah ihn an. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, sind wir nicht.« Sie trat zurück und Rufus konnte die große Holztruhe mit dem Eisenschloss sehen, die neben Filines Bett stand.
»Tut mir leid, dass ich gestern nicht mehr gekommen bin«, sagte er.
»Kein Problem«, murmelte Filine.
»Ha!« No saß an ihrem Schreibtisch, umgeben von einem hohen Bücherstapel. »Jetzt hat er wieder Zeit für uns! Hat der Herr endlich ausgeschlafen?«
»Wir haben die ganze Nacht über Speere gelesen, aber es hat sich nichts mehr gezeigt«, erklärte Filine eilig.
»Das wird es aber noch!«, verkündete No stur und warf Rufus einen mürrischen Blick zu. »Jedenfalls, wenn wir jetzt weitermachen, Fi.«
»No …«, begann Rufus.
»Stör uns jetzt nicht!« No wandte sich Filine zu. »Also, pass auf, ich glaube Folgendes: Speere waren schon seit langer Zeit ein Herrschaftszeichen, das wissen wir jetzt. Dann könnten die beiden Mädchen zum Beispiel irgendwelche Herrscherinnen gewesen sein.«
»Ja«, nickte Filine. »Aber das hatten wir schon, und bis jetzt hat es uns überhaupt nicht weitergebracht. Das ist nicht die richtige Frage. Vielleicht ist das mit dem Speer auch nicht so gut, wie wir dachten.« Sie ging zurück ins Zimmer und ließ die Tür offen stehen. »Du hast auch gar keinen Speer gesehen. Das ist immer noch nur eine Vermutung.«
»Vielleicht hat sich ja Coralia auch geirrt mit dem, was sie über das Holz gesagt hat«, schlug Rufus vor und trat auf die Türschwelle.
»Mann!« No fuhr herum. »Was willst du eigentlich hier?«
»Mitmachen«, sagte Rufus leise.
»Na, super! Jetzt auf einmal! Und, hast du irgendeine Ahnung von Speeren?«
»Nicht die geringste«, gab Rufus zurück.
»Kannst du dir dann irgendwas vorstellen, was uns weiterhelfen könnte, wenn ich dir sage, dass die älteste Speerspitze aus Holz, die bis heute gefunden wurde, aus dem englischen Essex stammte und etwa 400000 Jahre alt ist. Oder dass es Speere bei den Römern und Griechen gab?«
»Ich wäre auch wütend an deiner Stelle …« Rufus tat noch ein paar Schritte und stand jetzt mitten im Zimmer. »Aber ich möchte gerne bei deiner Flut dabei sein. Und ich glaube auch, dass das mit dem Speer vielleicht …«
»Gestern«, unterbrach ihn No, »hast du noch gesagt, du weißt nicht, ob ich mir das alles bloß einbilde und ob es überhaupt eine Flut ist. Und jetzt glaubst du also, es ist eine, aber die einzige wirkliche Spur, die ich habe, nämlich dass das Holz der Stechpalme ein typisches Speerholz ist, hältst du für falsch!?«
»Ja«, sagte Rufus ruhig. »Ich glaube, dass es eine Flut ist. Und ich glaube, dass das mit dem Holz im Moment nicht die richtige Spur ist, sonst hätte sich euch die Flut heute Nacht doch
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