Die Stunde des Raben
und merkte, wie sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete. »Wir arbeiten zusammen daran, ohne die blöde Wette.«
»Echt?«, fragte No.
»Echt!«, sagte Rufus.
Filine legte den beiden die Hände auf die Arme. »Schön, das wäre dann ja geklärt. Das mit den Träumen finde ich allerdings wirklich ausgesprochen spannend.«
»Aber …«, fuhr No auf.
»Ja, ich weiß«, sagte Filine schnell. »Darum kümmern wir uns jetzt nicht, sondern um Mädchen im Schnee mit blau bemalten Gesichtern! Ich habe so was noch nie gesehen und auch keine Ahnung, wo oder wann es so was gegeben haben könnte.«
»Ich auch nicht«, gab Rufus zu.
»Aber der Schnee!«, rief No. »Der Schnee ist doch ein Hinweis!«
»Meinst du, es waren Eskimos?«, wollte Filine wissen.
»Eskimos?«, fragte No verdutzt.
»Ja. Bemalen denn Eskimos nicht ihre Gesichter gegen den Schneeglanz? Mit so dunklen Streifen unter den Augen?«
»Daran habe ich noch nicht gedacht. Ich dachte eher an Indianer. Obwohl ihre Haut nicht sehr rot wirkte. Aber es war ja Nacht.«
»Was haltet ihr dann davon, wenn wir zu Meister Günter gehen?«, schlug Filine vor. »Wir hatten zwar noch keinen Unterricht bei ihm, aber er ist laut Lehrplan der Meister für sämtliche Artefakte, die mit Farben zu tun haben, und dazu gehören auch Tätowierungen und Körperbemalung.«
»Okay«, stimmte Rufus zu. »Gehen wir zu ihm, wenn No einverstanden ist.«
No nickte gnädig. »Und wo hat der sein Zimmer?«
»Im Ostflügel, im Turm der Arbeit«, sagte Filine.
»Turm der Arbeit?« fragte Rufus. »Da war ich noch nie. Was ist denn das?«
Doch auch keiner der beiden anderen war je in dieser Ecke der Akademie gewesen. Um dorthin zu gelangen, mussten sie durch mindestens zwölf Säle und drei verschiedene Stockwerke gehen, wobei der scheinbar kürzeste Weg, den sie sich auf einem alten Plan herausgesucht hatten, immer wieder durch Mauern, eine plötzliche Stiege, Treppen oder ganz und gar verschlungene Korridore unterbrochen wurde.
»Hammer nein!«, stöhnte No, als sie zum dritten Mal vor einer roten Backsteinwand standen, die über und über mit Bildern behängt war. »Hier müsste es eigentlich weitergehen.«
»Geht es aber nicht«, sagte Filine erschöpft.
No schritt die Wand mit den Bildern ab. Auf ihnen waren Tempel und Kirchen, Statuen und gewaltige alte Villen von außen und innen abgebildet.
»Komisch«, murmelte No. »Normalerweise hängen doch in der Akademie nicht einfach so Bilder an der Wand. Das sind überhaupt keine Fragmente.« Er stellte sich dicht vor eine große Leinwand, die einen alten Tempel mit hohen Stufen zeigte, die nach oben führten. Und dann tat er etwas wirklich Seltsames. Er setzte den Fuß vor und betrat das Bild.
Rufus starrte No hinterher. Allem Anschein nach stand dieser auf den weißen Stufen des Tempels und winkte ihm von dort oben zu. Dann begriff Rufus, um was es sich handelte.
»Das ist gar kein gemaltes Bild!«, rief er Filine zu. »Das ist eine getarnte Treppe. Eine optische Täuschung, Wahnsinn!«
»Wie hast du denn das entdeckt?«, fragte Filine an No gewandt.
»Da kam ein Luftzug von oben«, erklärte der. »Und dann habe ich es plötzlich gesehen. Ich bin einfach nur meiner Nase nach …« Er grinste und drehte sich um.
Rufus und Filine folgten ihm.
Nach einigen Schritten gingen die weißen, gemalt wirkenden Marmorstufen in eine dunkle Holzstiege über, die von unten wie ein Schatten an der Tempeldecke gewirkt hatte. Jetzt spürte auch Rufus den Lufthauch.
»Hier riecht es nach Farbe!«, verkündete No.
Er hatte recht. Je weiter sie nach oben stiegen, desto deutlicher wurde ein scharfer, leicht öliger Geruch.
Die drei Lehrlinge bogen um eine Ecke und sahen vor sich einen weißen bogenförmigen Eingang in ein weiteres Treppengewölbe. Dieses war ganz aus weißem Marmor, und die Stufen wanden sich dort um eine mit vielen Figuren und Szenen versehene Säule.
»Wow!«, entfuhr No ein bewundernder Ausruf.
Es war tatsächlich, als würden sie eine ausgehöhlte Marmorsäule betreten, deren Kern noch erhalten und über und über mit arbeitenden Menschenfiguren bedeckt war. Während sie hinaufstiegen, bemerkte Rufus, dass der Künstler hier so ziemlich alle Arbeiten der Welt dargestellt haben musste, die es zu seiner Zeit gegeben zu haben schien. Es gab Schmiede und Steinhauer, Bauern und Fischer, Frauen auf Feldern und beim Weben. Und alle waren sie bei der Arbeit.
»Ihr befindet euch im Turm der Arbeit, der
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