Die Stunde des Raben
er erkannte, war tiefer Wald. Unsicher, ohne jeden Anhaltspunkt außer den Lauten, die er hörte, tastete er sich vorwärts und erfühlte mit den Händen dichtes Unterholz, das ihm den Weg versperrte. Irgendwo aus dieser Dunkelheit drang immer weiter die Stimme zu ihm. Rufus lauschte, und dann hörte er, dass sie in einer ihm unbekannten Sprache sang.
Aber war es nicht dieselbe Sprache, die er schon vorher gehört hatte? Warum verstand er sie dann jetzt nicht mehr?
Rufus blieb stehen, neigte den Kopf und lauschte noch intensiver. Ja, es waren dieselben kehligen, verschwommenen Laute, denen an sich schon etwas sehr Melodiöses anhaftete. Jetzt aber waren sie wirklich von Tönen begleitet. Rufus begann der Melodie im Kopf zu folgen, und dann fing er an, die Worte des Liedes zu erfassen. Er musste sich anstrengen, aber die Fähigkeit der Lehrlinge, in einer Flut fremde Sprachen zu verstehen, schien auch in seinem Traum zu gelten. Es war kein richtiges Lied, sondern ein Sprechgesang. Leise schwebten die Worte durch das Unterholz:
»Die drei Zeichen des Mitgefühls sind: Die Klagen eines Kindes zu verstehen, ein Tier nicht zu stören, das sich niederlegt, Fremden gegenüber freundlich zu sein. 1 «
Jetzt erkannte Rufus, dass es die Stimme der Frau war, die er schon in seinem früheren Traum gehört hatte. Die Stimme der Königin. Sie klang stark und tröstend. Aber zugleich lag ein tiefer Schmerz in ihr.
»Es ist Zeit, dass ich aufbreche, meine Töchter«, fuhr sie fort. »Aber vergesst dies nie, niemals, nicht jetzt, nicht in der schlimmsten Stunde, denn dieses Wissen alleine unterscheidet uns von den Rotschöpfen …«
Rufus fragte sich, ob er versuchen sollte, auf die Stimme zuzugehen? Kaum hatte er sich die Frage gestellt, tauchte am Boden ein kleiner Schatten vor ihm auf, noch dunkler als alles, was ihn umgab. Und diesmal erkannte Rufus ihn sofort.
»Minster!«, stieß er flüsternd hervor. »Minster, bist du mein Führer in diesen Träumen? Aber dich gibt es nicht nur im Traum …«
Ohne sich nach ihm umzusehen, lief die Bisamratte vor Rufus in die Dunkelheit. Das hieß wohl: ja. Ohne zu zögern, folgte Rufus ihr. Im nächsten Augenblick öffnete sich vor ihm die Lichtung. Auf dem Hügel unter dem Baum mit den hängenden Ästen kauerten wieder die beiden kindlichen Gestalten mit gesenkten Häuptern, die von ihrer Mutter in den Armen gehalten wurden.
Rufus näherte sich den dreien. Als hätte die Königin ihn gehört, verstummte ihr Gesang, dann sagte sie: »Ihr müsst jetzt essen! Ich will, dass ihr esst. Wir werden dem Leben beweisen, dass wir stark genug sind, wieder zu Kräften zu kommen. Und darum werdet ihr essen, auch, wenn ihr denkt, dass ihr nie wieder Hunger spüren könnt.«
Rufus sah, dass die Mädchen in den Armen ihrer Mutter zaghaft nickten. Die Königin erhob sich und führte die Mädchen dicht an sich gepresst über die Lichtung. Rufus folgte ihnen. Er merkte, dass er sich hier anders bewegte, als in seinen sonstigen Träumen. Der Ort schien nicht einfach zu wechseln oder zu verschwimmen, und Rufus hatte auch keinen Moment das Gefühl, dass er fliegen konnte oder etwas in der Art, wie sonst, wenn er träumte. Im Gegenteil, alles um ihn herum wirkte wie ein wirklicher Wald in einer wirklichen Welt.
Plötzlich fuhr er zusammen. Vor ihnen auf dem Waldboden brannte ein niedriges Feuer. Ein Holztrog war in die Erde gegraben worden, und der Mann, der daneben kniete, holte soeben mit einem langen, gegabelten Ast gekochtes Fleisch aus dem Wasser. Es war Tyrai.
Die Frau und die Mädchen traten näher. Jetzt fiel das Licht des Feuerscheins auf ihre Gesichter, und die beiden Mädchen sahen auf. Im selben Moment fühlte Rufus, wie er erstarrte. Die Gesichter der beiden waren blau bemalt.
Blau! Genau, wie No es erzählt hatte, schoss es ihm durch den Kopf. Konnte das sein, dass sie beide dieselben Menschen sahen? Er blickte sich um, aber nichts verriet ihm, wo sie waren. Rufus verstand zwar die Sprache, aber er hatte sie noch nie zuvor gehört. Das Einzige, was er sah, war, dass zwischen den Bäumen immer wieder etwas Schnee schimmerte.
»Esst, meine Töchter!«, sagte die Frau. Sie gab Tyrai ein Zeichen, der mit einem Messer auf einem Stein Fleischbrocken von etwas, das aussah wie ein Hase, zu teilen begann und sie den Mädchen reichte. In seinen Augen standen Wut und Trauer, aber er zügelte sich, als er den Mädchen das Fleisch reichte.
»Nehmt!«, sagte er leise. »Die Königin hat gut getan,
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