Die Stunde des Raben
euch hierherzubringen. Der Baum wird euch Kraft geben und Schutz bieten. Und das Fleisch wird euch stärken.«
Das ältere Mädchen begann als Erste zu kauen. Dann folgte die jüngere Schwester ihrem Beispiel. Tyrai sah ihnen stumm beim Essen zu. Ein schmales Lächeln begann um seine Lippen zu spielen.
Die beiden Schwestern aber sahen unendlich traurig aus. So traurig, dass Rufus am liebsten zu ihnen gelaufen wäre und sie getröstet hätte. Er konnte kaum den Blick von ihnen wenden. Beide hatten sehr helle Haut und langes rotblondes Haar, das wirr herabhing. Sie sahen erschöpft und sehr müde aus, und doch hatte bei den Worten ihrer Mutter ein kleines Feuer in ihren Augen zu glimmen begonnen.
Rufus fühlte, wie sich eine große Zuneigung in ihm ausbreitete, zu den beiden Mädchen, die hier stumm im Wald an einem Feuer saßen und aßen. Und dann erschrak er plötzlich.
Hinter den beiden Kindern tauchte etwas aus der Dunkelheit auf, und noch ehe Rufus reagieren konnte, beugte sich das Etwas über sie. Der Lehrling wollte aufspringen und ihnen zu Hilfe eilen, ohne zu wissen, ob das überhaupt möglich war in einem Traum. Doch kaum hatte er den ersten Schritt getan, hielt Rufus verblüfft inne.
Die Gestalt, die plötzlich mitten auf der Lichtung aufgetaucht war, war kleiner als die Frau und etwas größer als die beiden Mädchen. Es war ein Junge mit blonden Haaren. Es war No.
Was machte No in seinem Traum? Und wieso beobachtete er die beiden Schwestern? War es etwa so, dass er gerade von derselben Flut träumte, von der No vorhin berichtet hatte? Konnte es wirklich sein, dass sie auf verschiedenen Wegen in dieselbe Flut gelangt waren?
Rufus lief auf No zu.
»No?«, flüsterte er.
Doch der blonde Lehrling sah ihn nicht. Stattdessen stießen die beiden Mädchen, als Rufus auf sie zukam, einen entsetzten Schrei aus. Sie starrten ihn an wie einen Geist. Ihre Mutter wandte ruckartig den Kopf. Doch wie Rufus an ihrem Blick erkennen konnte, konnte sie ihn nicht sehen. Aber wie war es möglich, dass die Mädchen ihn sahen?
»Keine Angst!«, flüsterte Rufus ihnen zu, ohne zu wissen, ob sie seine Stimme hörten. »Ich tue euch nichts. Ihr müsst euch nicht vor mir fürchten!« Er lächelte zaghaft und verbeugte sich vor ihnen.
Die beiden Schwestern klammerten sich immer noch aneinander. Na klar, sie konnten ihn natürlich nicht hören. Aber irgendwie sahen sie ihn doch, oder?
Rufus versuchte es wieder: »Ich bin Rufus Minkenbold, Lehrling der Akademie, und ich glaube, ich träume von euch. Habt keine Angst.«
Er lächelte. Und dann geschah etwas Wunderbares. Kaum hatte Rufus gesprochen, wich die Angst aus ihren Gesichtern, sie ließen einander los und entspannten sich.
»Was war?«, fragte ihre Mutter.
»Mach dir keine Sorgen, Mutter«, sagte das ältere Mädchen. »Wir haben uns nur erschrocken, denn der Baum hat uns ein Zeichen gesandt. Er wird uns beschützen. Du kannst uns ohne Sorge hierlassen. Der Baum Saliko wird uns behüten.«
»Ja«, sagte die Jüngere. »Es war ein Roudo, und er wird uns vor den Rotschöpfen beschützen!«
Rufus hörte ihnen erstaunt zu. Im selben Moment spürte er, wie etwas an ihm zog. Verwundert sah er nach unten. Minster stand neben ihm und sah ihn aus ihren dunklen Augen an. Und im nächsten Moment war unter seinen Füßen kein Waldboden mehr, sondern ein Stück alten Stoffs. Es war rötlich und golden.
Und dann erwachte Rufus und saß in seinem Sessel in seinem Zimmer in der Akademie. Er war alleine. Von Minster war nichts mehr zu sehen.
Durch das Fenster fiel das erste Morgenlicht.
Blaue Muster
Rufus starrte in den Himmel über den Dächern der Akademie. Dann stand er abrupt auf, ging an das Löwenkopfbecken und fing an, sich zu waschen. Das war alles ganz unglaublich. Was machte No in seinem Traum?
Natürlich war es schon oft vorgekommen, dass er von Freunden oder Menschen träumte, mit denen er im Leben zu tun hatte. Aber gleichzeitig war Rufus sich sicher, dass das, was er in dieser Nacht erlebt hatte, kein gewöhnlicher Traum gewesen war. Überhaupt nicht! Und vielleicht war es ja auch nicht einmal sein eigener Traum gewesen. Vielleicht führte ihn Minster in eine Traumwelt, die er von alleine gar nicht zu Gesicht bekommen würde.
Denn eins war sicher: Minster war keine gewöhnliche Bisamratte. Sie war eine akademische Bisamratte. Rufus musste grinsen.
Auf alle Fälle musste er sofort zu No. Der hatte ihn dort im Wald nicht bemerkt, aber allem Anschein nach hatten
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