Die Stunde des Raben
Originalsäule von Auguste Rodin«, verkündete in diesem Moment eine Stimme über den Köpfen der Lehrlinge. »Willkommen in meiner Arbeitsstätte! Ich bin Meister Günter. Kennt ihr das Kunstwerk?«
Verblüfft schauten die drei nach oben. Am Ende der Stufen stand ein breitschultriger Mann mit einem großen und doch sehr zarten Gesicht, aus dem zwei wache, braune Augen auf sie gerichtet waren. Viel beeindruckender als seine Gestalt aber war, dass die sichtbaren Teile seines Körpers über und über mit mehrfarbigen, dicht ineinander verschlungenen Bildern tätowiert waren.
»Ihr müsst Filine, No und Rufus sein. Ich habe nicht so bald mit euch gerechnet. Normalerweise dauert es ein paar Fluten, ehe Artefakte, die mit Farben zu tun haben, für Frischlinge interessant werden. Meist steht das unbekannte Abenteuer an erster Stelle für neue Lehrlinge.« Er betrachtete die drei neugierig und wandte sich dann um. »Kommt mit, ich zeige euch mein Reich.«
Meister Günter führte die Lehrlinge über einige weitere Rundungen im Turm der Arbeit bis ganz nach oben. Unter einer kleinen Kuppel, in der goldene Sterne an eine blau schimmernde Decke gemalt waren, blieb er stehen. Er wandte sich einem Jungen zu, der auf einem mit vielen Farben bespritzten alten Holzstuhl saß.
»Oliver, wir müssen unsere Sitzung für einen Moment unterbrechen. Die drei Frischlinge hier brauchen Hilfe.«
Der Junge lächelte und nickte Rufus, Filine und No freundlich zu. Dann stand er auf und zeigte auf eine Tür, die in einen angrenzenden Raum führte.
»Ja, natürlich«, sagte Meister Günter. »Wenn du malen willst, tu das.«
Oliver streckte einen Daumen nach oben. Dann suchte er sich von einem Regal einige Pinsel und Farben zusammen. Erstaunt sah Rufus ihm dabei zu. Der schmale Junge trug nur eine Hose, und sein nackter Oberkörper war über und über mit Bildern bemalt, die sich wie eine lange Schlange um ihn wanden.
»Oliver spricht nicht in Worten«, erklärte Meister Günter. »Er ist stumm. Er spricht mit Bildern. Wir malen ihm gerade seine letzte Flut auf den Körper. Er hat die Bilder in einem Skizzenbuch festgehalten, und jetzt helfe ich ihm dabei, sie in Farbe auf seinen Körper zu bringen. Anschließend mache ich dann ein großes Gemälde von ihm mit der bemalten Haut. Er will das so und das tun wir nach jeder seiner Fluten. Es sind beeindruckende Flutberichte.«
»Wahnsinn!«, entfuhr es Rufus beeindruckt.
Oliver hob den Kopf und warf ihm einen fragenden Blick zu.
»Ich zeichne auch«, erklärte Rufus rasch. »Das ist wirklich spannend, was du machst.«
Oliver verharrte für einen Augenblick. Dann nickte er kurz und verließ mit seinen Farben und Pinseln das Zimmer.
Meister Günter wandte sich den Lehrlingen zu. »Was sucht ihr und wie kann ich euch behilflich sein?«
»Es geht tatsächlich um eine Flut«, sagte No stolz. »Genauer gesagt darum, wer sich alles in der Vergangenheit die Gesichter blau angemalt hat?«
»Blau?« Der Meister sah ihn interessiert an. »Oh, mehr Menschen, als ihr denkt, höchstwahrscheinlich. Da waren zuerst einmal die Germanen, dann die Pikten, die Kelten, die Britannier, aber natürlich auch die Maori. Kannst du noch weitere Angaben machen?«
»Ja, zum Glück wissen wir noch etwas«, erwiderte No. »Da war Schnee!«
»Schnee?!«, wiederholte der Meister. »Schnee gab es selten bei den Maori. Dann können wir sie vorerst wohl ausschließen. Mehr wisst ihr nicht?«
»Eskimos oder Indianer können es nicht gewesen sein?«, fragte No hoffnungsvoll.
»Oh doch«, erwiderte Meister Günter. »Auch die. Aber ich muss euch sagen, die Farbe an und für sich und der Schnee sind keine wirklich spezifischen Hinweise auf die Kultur, in der diese Körperbemalung angewendet wurde. Besser wäre es, ihr wüsstet, ob sie als Kriegsbemalung diente, zur Stammesunterscheidung, für das Theater, oder ob es sich um eine religiöse Bemalung gehandelt hat? Habt ihr nicht noch irgendeinen weiteren Hinweis?«
Filine schüttelte den Kopf. Aber Rufus und No überlegten. Dann hellte sich Nos Miene unvermittelt auf: »Das Muster! Das Muster, mit dem die Gesichter bemalt waren. Das habe ich gesehen. Hast du es nicht gesehen, Rufus?«
Rufus schüttelte den Kopf. Er hatte überhaupt nicht auf das Muster geachtet. Stattdessen war seine ganze Aufmerksamkeit auf die Augen und Stimmen der Mädchen gerichtet gewesen.
»Nein«, gab er etwas unglücklich zu.
»Kannst du es vielleicht aufmalen?« Auffordernd sah Meister
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