Die Stunde des Raben
wohl wieder gezeigt.«
No fuhr herum. »Ach, und woher weißt du das? Hat dich inzwischen die Erleuchtung überkommen?«
Filine sah Rufus ebenfalls gespannt an.
»Hört zu, ich weiß, das klingt verrückt. Aber bevor ich es euch verrate, müsst ihr mir versprechen, dass ihr es niemandem weitersagt. Versprecht ihr mir das?«
Filine überlegte. Dann nickte sie. »Wenn du unbedingt willst.«
No dagegen zuckte nur gleichgültig die Schultern.
»Bitte, No«, drängte Rufus. »Ich will nur, dass ihr für euch behaltet, was ich euch jetzt sage. Es klingt ein bisschen verrückt, und ich bin mir bei all dem nicht sicher. Aber ich muss es euch erzählen.«
No hielt inne. Dann sagte er nahezu unhörbar: »Ja, ich behalte es für mich.«
Rufus atmete auf. »Danke! Okay, ich habe heute Nacht von den beiden Mädchen mit den blau bemalten Gesichtern geträumt, No. Und dann habe ich gesehen, wie du dich über sie gebeugt hast.«
No öffnete den Mund und bekam ihn nicht mehr zu. »Du …?«
»Hinter ihnen im Wald war Schnee!«
No sprang auf. »Was soll denn das jetzt bedeuten? Wie kannst du das gesehen haben? Du warst überhaupt nicht dabei!«
»Doch«, sagte Rufus. »Ich habe sie gesehen. Und dich auch.«
Etwas hilflos sah No ihn an.
»Ich war da!«, sagte Rufus fest. »Ich habe das alles gesehen, in dem Wald.«
»Aber da war kein Wald!«, sagte No heftig. »Ich habe nur die beiden Gesichter gesehen. Da war kein Wald! Das denkst du dir aus.«
»Nein«, sagte Rufus. »Bestimmt nicht. Bei mir war ein Wald da.«
»Na klar, bei dir war Wald da. Weil du meine Flut besser gesehen hast als ich. Und deswegen kannst du mir jetzt wohl vorschreiben, was ich in meiner Flut gesehen haben soll, oder was?«
Filine trat zwischen die beiden. »Warte mal, No. Du sagst, du hast das geträumt, Rufus?«
»Genau. Und ich glaube, es war eine Traumflut.«
No prustete los. »Eine Traumflut! Was ist denn das für ein Schwachsinn? Wir sitzen hier und lesen eine Million Bücher, um überhaupt eine Spur zu finden, und du legst dich mal eben hin und träumst dir dann alles zusammen. Echt großartig! Dann kann man das ganze Studium ja auch gleich einfach bleiben lassen.«
»Natürlich nicht«, gab Rufus ungehalten zurück. »Aber ich glaube, es gibt eben auch noch andere Wege in die Fluten. Und ich bin nicht der Erste, dem das passiert. Es gab einen Meister, er hieß Nikolai Zeitschneider, und er konnte es höchstwahrscheinlich. Jedenfalls etwas. Nur, dass es ihm nie gelungen ist, eine Traumflut auch ganz bis zum Ende zu bringen.«
No schnaubte verächtlich. »Echt! Kannst du nicht einfach ehrlich sagen, dass du wieder mitmachen willst? Musst du hier so einen Blödsinn erzählen, nur weil du gestern zu faul warst, noch mal aus dem Bett zu kommen?«
»Das ist die Wahrheit«, erwiderte Rufus. »Und gestern konnte ich nicht, weil ich diese Traumflut ausprobieren wollte. Minster hat mich darauf gebracht. Sie ist mein Führer in diesen Fluten. Die Traumflut hat mich zu dir geführt, No. Und ich glaube, Minster wollte uns helfen. Also auch dir! Lass uns wieder zusammen forschen.«
Aber No schüttelte nur stumm den Kopf.
»No«, sagte Filine, »ich finde, das klingt zwar alles ziemlich verrückt, aber durchaus möglich. Bei meinen Vorfahren haben Träume auch eine große Rolle gespielt.«
»Oh, nein!«, rief No. »Bin ich jetzt nur noch von Pharaoninnen und Sonderlingen umgeben? Kann hier vielleicht auch mal ein normaler Mensch eine Rolle spielen?«
»Du bist kein normaler Mensch«, sagte Filine. »Du bist Mitglied der Akademie.«
»No«, sagte Rufus leise. »Ich mache dir nichts vor.«
»Trotzdem«, brummte No.
Plötzlich stemmte Rufus die Arme in die Hüften. »Und außerdem hast du vorgestern die Wette verloren. Wenn ich will, musst du mich in deine Flut mit reinlassen.«
»Was?« No schoss auf Rufus zu und baute sich dicht vor ihm auf. »Das glaubst du doch wohl selbst nicht?! Heb dir deine blöde Wette für Coralia auf. Bei der kannst du gerne in ihre Fluten schlüpfen. Aber bei mir nicht. Bei mir kannst du dabei sein, wenn du ganz normal mit Filine und mir zusammenarbeitest. Das hast du selbst gesagt. Man muss arbeiten, um zu was zu kommen. Und genau das tun wir jetzt auch. Wir wissen, dass wir es mit zwei Mädchen mit blau bemalten Gesichtern zu tun haben. Und vielleicht ist das mit dem Speer eine falsche Spur. Okay, dann machen wir eben woanders weiter. Und basta!« Er sah Rufus herausfordernd an.
»Einverstanden«, sagte Rufus
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