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Die Stunde des Raben

Die Stunde des Raben

Titel: Die Stunde des Raben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Pfeiffer
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die Füße gebunden und zum Teil Felle um die Schultern geworfen. Andere hatten trotz der klirrenden Kälte, die No, Filine und Rufus ebenfalls auf der Haut spürten, einen nackten Oberkörper. Und alle hatten sie so wilde Frisuren, wie Rufus sie bisher nur von Punkern kannte. Viele trugen die Haare aufgetürmt, als hätten sie sie mit mehreren Tuben Gel eingeschmiert. Stacheln und Borsten standen zur Seite und in die Höhe, und zudem waren viele der wilden Mähnen blond oder rot gefärbt.
    Die Frauen dagegen trugen die langen Haare offen oder zu vielen dünnen Zöpfen geflochten, unter denen sie ein Tuch um den Kopf geschlungen hatten. Ihre Kleider waren bunt. Sie trugen Ringe und Ohrringe, Halsketten oder lange Nadeln und Fibeln, mit denen sie Tücher oder Felle vor der Brust zusammenhielten.
    Eines allerdings war allen Männern und Frauen gemeinsam: Jeder von ihnen hatte ein Schwert oder einen Speer in der Hand. Und die Geräusche rührten daher, dass sie ihre Waffen an dem dunklen Stein scharf schliffen.
    Vor den Menschen stand die Mutter der beiden Mädchen, an ihrer Seite Tyrai.
    »Unsere Waffen sind alt«, sagte er zu ihr. »Sie lagen alle in Verstecken oder in der Erde vergraben. Die guten Waffen mussten wir an die Rotbüsche abgeben, wir haben nur noch die, die sie nicht gefunden haben.«
    »Aber wir haben sie, Tyrai«, entgegnete die Königin. »Und sie werden scharf genug sein.«
    Der Mann neigte das Haupt. »Sind uns die Rotbüsche nicht überlegen?«
    »Und wenn«, sagte die Frau stolz. »So können sie uns nicht mehr nehmen, als sie bereits getan haben. Sie haben das Wort meines Mannes Prasutagus verächtlich in den Schmutz getreten, als sie sein Erbe nicht anerkannt haben, obwohl er ihnen Frieden geschworen hatte. Sie haben so gehandelt, obwohl er ihnen die Hälfte unseres Besitzes vermacht hat. Obwohl er ihre Besatzung unseres Landes hinnahm und ihnen Frieden zusicherte. Sie haben den Stamm der Icener beleidigt und entehrt. Sie sind hergekommen und haben unser Dorf niedergebrannt. Sie haben meine Töchter geschlagen und verwundet – vor meinen Augen. Und sie haben mich vor den Augen meiner Töchter geschlagen und gedemütigt. Sie haben mir ins Gesicht gelacht, als ich das Recht beschwor, und mich voller Hohn wissen lassen, dass mein Mann mir und meinen Töchtern nicht die Hälfte unseres Reiches vermachen könnte, weil ich eine Frau sei!
    Es gibt bei den Rotbüschen kein Recht für Frauen. Sie sind keine Herren, Tyrai … Sie sind ein erbärmliches, feiges, ungehobeltes Volk, das seine Herrschaft nicht auf Würde und Recht, sondern auf Habgier, Gewalt und Unterdrückung begründet.
    Und jeden, der nicht nach ihrem Willen ist, bringen sie um. Aber ich sage dir, wenn sie über unser Land herrschen wollen, über das Land, in dem wir geboren worden sind, und in dem wir sterben werden, wann immer die Stunde des Raben es bringt, dann sollen sie jetzt auch erfahren, wie diese Frauen, die sie so verachten, ihre Ungerechtigkeit und ihre Ablehnung zu erwidern vermögen.
    Du weißt, wie Prasutagus und ich uns im Schwertkampf und bei Waffenübungen gestählt haben. Du weißt, dass wir Frauen der Icener das Schwert nicht schlechter führen als ihr Männer. Und ich bin nach unserem Recht die Königin der Icener. Ich bin eure Königin. Und ich darf und werde nicht tatenlos zulassen, dass die Rotbüsche uns das Recht und die Freiheit nehmen.«
    »Ja, Königin«, sagte Tyrai ruhig. »Eure Worte sind wahr, und ihr handelt recht.«
    Die Frau nickte stumm. Dann legte sie ihm die Hand auf die Schulter. »Mach dich jetzt auf den Weg. Geh zu meinen Töchtern zurück und kümmere dich um sie. Sag ihnen, dass ich geschworen habe, ihr Erbe zu retten und die Untaten der Rotbüsche zu rächen. Sie werden ihre Mutter nicht als Feigling in Erinnerung behalten müssen. Ich habe sie in den Wald geführt und für sie am Weidenbaum gebetet. Jetzt aber muss ich mich dem Stamm zuwenden und ihn anführen. Und wenn ich in den Kampf ziehe, wirst du über sie wachen. Du wirst ihr Beschützer sein, was auch immer geschieht. Ich werde mit dem Stamm gegen die Festung der Rotbüsche ziehen, und du wirst mit meinen Töchtern, gemeinsam mit den anderen Kindern und Frauen, die nicht in vorderster Linie kämpfen, mit den Wagen hinter uns herziehen.«
    Tyrai sah seine Königin an. Dann lächelte er. »Ihr seid meine Königin, und ich werde meine Pflicht mit frohem Herzen erfüllen.«
    »Gut, dann nimm jetzt meinen Wagen und das Pferd. So können

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