Die Stunde des Raben
Weide«, sagte Filine.
Nichts passierte. Filine und No blickten Rufus an.
»Tut mir leid«, sagte Rufus. »Ich weiß jetzt auch nicht mehr als ihr.«
Er sah in die erwartungsvollen Gesichter der beiden anderen und musste plötzlich kichern. »Ehrlich, ich weiß wirklich nichts! Ich habe nichts mehr geträumt, und ich habe keinen Schimmer, wie es weitergehen soll.« Er lachte hell auf.
No und Filine sahen in Rufus’ lachendes Gesicht, und dann fielen sie unvermittelt in sein Lachen ein.
»Ich habe Hunger«, verkündete No, als sie sich wieder beruhigt hatten. Er schlug seine Bücher zu. »Und ich kann keine Buchstaben mehr sehen. Lasst uns eine Pause machen und frühstücken gehen. Falls die Flut wieder auftaucht, ist es besser, wenn unser Magen gefüllt ist.«
»Einverstanden«, sagte Rufus sofort. »Aber bitte kein Wort über meine Träume zu den anderen Lehrlingen, okay? Ich will nicht für verrückt gehalten werden wie Nikolai Zeitschneider.«
»Das würde ich auch nicht wollen«, stimmte Filine zu. »Ich werde schweigen wie ein Grab.«
No fing wieder an zu kichern. » Du wirst schweigen wie ein Grab? Na, dann reicht es ja wohl, wenn ich schweige wie ein halbes Grab, so viel, wie du immer redest?!«
Filine stieß No kräftig in die Seite. Aber der wehrte sie lässig ab und lachte schon wieder. Filine verdrehte die Augen und warf Rufus einen hilfesuchenden Blick zu.
»Da brauchst du gar nicht Rufus anzugucken«, kicherte No weiter. »Der kann da auch nichts machen. Pharaonenenkelinnen und Traumflutspinner, ihr könnt sagen, was ihr wollt, aber der einzig normale Mensch hier bin ja wohl ich!«
Und damit marschierte er los in die Mensa. Filine und Rufus folgten ihm.
Als sie im Speisesaal angekommen waren und auf die große Feuerstelle zusteuerten, hinter der Meister Spitznagel schon eifrig hantierte, kam ihnen Meister Zachus entgegen. Aus einer kleinen Schale in seinen Händen ragte ein Paar Stäbchen in die Höhe, und der Dampf, der über der Schale schwebte, roch verführerisch. Der Werkmeister nickte ihnen mit vollem Mund zu und wollte weitergehen. Aber No hielt ihn auf.
»Meister Zachus, guten Morgen. Kann ich Sie was fragen?«
Der kleine Mann blieb stehen. »Mein Essen wird kalt werden, ich ahne es, Norbert Brunnemann. Ich meine, No wie so. Es tut mir leid, aber ich habe noch nichts Neues über deine Stechpalme herausbekommen.«
»Darum geht es gar nicht! Ich wollte Sie aber fragen, ob Sie mir sagen können, was es mit Weidenholz oder Weidenbäumen auf sich hat?«
»Oh«, der Werkmeister hob die Stäbchen aus der Schale und betrachtete ein Stück Fleisch, das von einer leuchtend grünen Haut umhüllt war. »Ist das Schlange?«, fragte er überrascht. Dann schob er es sich in den Mund, kaute, dachte nach und nickte schließlich. »Stöbert ihr bei den Kelten herum?«
»Ja«, sagte No. »Wie kommen sie darauf?«
»Es ist einer ihrer heiligen Bäume. Ein Mondbaum, genauer gesagt, mit magischen Wurzeln. Es gab eine alte Regel: Wenn man einen Wunsch aussprach und zwei Zweige miteinander verknotete, ging der Wunsch vielleicht in Erfüllung. Und wenn das geschah, kehrte man zurück, löste den Knoten wieder und hinterließ der Weide ein Geschenk.«
»Ja, genau das haben wir erlebt«, sagte Rufus. »Die Mutter zweier Mädchen hat diese zur Weide geführt, um sie zu beschützen. Und sie hat auch davon gesprochen, dass sie zurückkehren wollte.«
»Beschützen wovor?«, fragte Meister Zachus.
»Vor einem Krieg, denken wir«, sagte Filine. »Vor den Angreifern.«
Meister Zachus ließ die Stäbchen sinken. »Ihr seid in einer Flut in einer Kriegssituation? Braucht ihr Hilfe? Und seid ihr sicher, dass ihr diese Flut durchmachen wollt? Krieg ist ein schlimmes Geschäft. Ihr könntet Dinge sehen, die euch in der Seele verletzen und die ihr nie wieder vergesst.«
»Aber die Flut hat sich mir gezeigt«, sagte No. »Deswegen bin ich doch hier.«
Der Meister nickte. »Ich würde sie auch sehen wollen. Die Wahrheit ist in meinen Augen leichter zu ertragen als das Nichtwissen. Du denkst also, dass das auslösende Artefakt es wert ist, sich seiner Geschichte auszusetzen?«
»Ja«, sagte No ohne zu zögern. »Sonst wäre sie nicht zu uns gekommen.«
Meister Zachus neigte den Kopf. »Gewalt und Krieg spielen in der Geschichte ein große Rolle«, sagte er dann ruhig. »Und oft erkennt man das Licht erst an Schatten. Aber ich bitte euch, wenn ihr feststellen solltet, dass diese Flut zu tief in Krieg oder
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