Die Stunde des Raben
wirklich. Ich werde dem Händler einfach sagen, wenn er eine Summe bietet, die dem entspricht, was für ein etruskisches Schmuckstück ähnlicher Größe gezahlt wurde, das schon mal an ein Museum verkauft worden ist, ist das für mich okay.«
»Dich interessiert Geld überhaupt nicht?« Überrascht sah Filine auf.
»Nee«, sagte No. »Jedenfalls nicht hier in der Akademie. Auch wenn ich weiß, dass es nötig ist. Ich habe schließlich jede Woche für meine Oma die Einkäufe erledigt. Und weiß, wie wenig Rente sie hat. Aber hier will ich mich nicht darum kümmern. Ich will forschen.«
Filine sah ihr Artefakt an, die große Truhe mit dem schweren und verschlungenen Eisenschloss.
»Das ist ein Geldkasten von 1859, ein tragbarer Reisesafe. Zehn Zentimeter dicke Eichenbohlen, rundum mit Eisenbändern beschlagen. Für damalige Verhältnisse nicht leicht zu knacken. Ich weiß noch nicht genau, was ich von dem Händler dafür verlangen soll. Aber ich habe da eine Idee, weil ich glaube, dass die Truhe allein es nicht so richtig bringt.«
Filine lächelte spitzbübisch.
Rufus schüttelte den Kopf. »Ich habe noch nicht die geringste Ahnung.«
No ging zurück zum Frühstückstisch und bediente sich. »Ja, du hast deine Zeit verträumt, während wir gearbeitet haben. Aber ich kann dich gut verstehen. Diese Traumflut, das war toll, Rufus. Vollkommen genial.« Er nahm ein großes Stück Maisfladen und biss hinein. Dann trank er einen Schluck Aztekenkakao und schmatzte versonnen. »Aber wie funktioniert das? Warum konnten wir mit allen sprechen? Und was hatte dieser Druide damit zu tun? Wieso konnte er uns verwandeln?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Rufus. »Ich meine, es war eben immer noch ein Traum, oder? Und im Traum sind meistens mehr Dinge möglich als sonst.«
»Vielleicht«, sagte Filine. »Aber vielleicht war es auch irgendwie mehr. Fast wie damals, als ich mit meiner 94. Urgroßmutter gesprochen habe. Es war viel direkter als sonst in einer Flut! Ich glaube, dass Traumfluten irgendwie mächtiger sind.«
»Hm«, mampfte No. »Gut möglich.«
»Es ist sogar sehr gut möglich«, verbesserte ihn Filine. »Und die Aufzeichnungen der beiden römischen Historiker stimmen auch damit überein, was wir erlebt haben.«
»Ja, aber ein Druide und Zauberer …«, meinte No. »Okay, das war echt verrückt. Nun mal ehrlich, glaubt ihr an so was?«
»In der ägyptischen Geschichte spielen Zauberer eine große Rolle«, meinte Filine. »Wunder gab es sowieso schon immer. Und Imhotep war nicht nur der erste Baumeister des Alten Reichs und Begründer der Medizin, sondern auch ein Magier.«
»Auf alle Fälle hat es sich ziemlich echt angefühlt«, sagte No.
»Ja«, sagte Rufus. »Es könnte also sein, dass wir tatsächlich vor fast 2000 Jahren mit echten Menschen gesprochen haben.«
»Vielleicht hast du ja so eine Art Gabe, Rufus?«, überlegte No.
Rufus sah ihn unsicher an. »Und was bedeutet das jetzt für uns und die Flut?«
»Keine Ahnung«, befand No. »Aber irgendwie hat es bestimmt mit der Akademie zu tun.«
»Vielleicht war es ja auch doch nur ein Traum, der uns die Wirklichkeit auf eine Weise gezeigt hat, wie man sie sonst nicht kannte«, meinte Filine nachdenklich. »Und darin hat der Druide uns auch noch ein Geheimnis über dein Holz verraten, No.«
»Ja, aber so richtig verstanden habe ich das nicht«, gab No zu.
Rufus nickte. »Ich auch nicht. Hattet ihr das Gefühl, dass Aili und Brae den Römern entkommen konnten?«
»Ja«, sagte No sofort. »Und vielleicht haben wir erst dafür gesorgt. Das wissen wir einfach nicht.« Er biss wieder in seinen Maisfladen. »Echt! Ich liebe die Akademie. Aber was meinte der Druide denn nun mit meinem Holz? Sollte das heißen, dass es doch von einem Speer stammt?«
»Er hat mehr gesagt«, wandte Filine ein.
»Aber das war so unklar«, überlegte No.
»Er hat vom Tod gesprochen«, sagte Filine. »Aber auch vom Weiterleben.«
»Und was soll das heißen?« No sah sie hilflos an.
»Die Stunde des Raben!«, sagte Rufus plötzlich.
»Was?«
»Die Stunde des Raben«, wiederholte Rufus. »Boudicca hat das zu ihren Töchtern gesagt. Bevor die Stunde des Raben kommt, müssten sie an der Weide gewesen sein und den Knoten lösen, damit ihre Bitte an den Baum entgolten wird. Und der Druide hat auch davon gesprochen. Und dann war der Rabe am Himmel, der sie geführt hat.«
»Aber das ist doch der Tod«, sagte No.
»Ja«, gab Rufus zurück. »Boudicca wusste vielleicht, dass
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