Die Stunde des Schakals (German Edition)
anschleppten, war eindeutig zu viel des Guten. Hochkant aneinandergereiht ergaben die Ordner einen Wall von circa zweieinhalb Meter Länge.
«1989, 1990, 1994, 1998, 2001, da ist alles drin, was es zum Fall Lubowski gibt», sagte Angula. «Wir hatten Glück, die Staatsanwaltschaft prüft wieder einmal, ob das Verfahren neu aufgenommen wird. Die hatten schon alle Akten zusammengesammelt.»
Clemencia schlug den ersten Ordner auf und fand gleich den Obduktionsbericht. Anton Lubowski war von sieben Kugeln aus einer AK-47 getroffen worden. Nichtsdestotrotz hatte man ihm noch aus nächster Nähe in den Kopf geschossen, und zwar mit einer anderen, kleinkalibrigen Waffe. Das sprach eher gegen einen Einzeltäter. Warum sollte jemand die Kalaschnikow aus der Hand legen und eine Pistole ziehen, entsichern, neu ausrichten? Warum war er nicht einfach mit dem Gewehr in der Hand ein paar Schritte näher gegangen, wenn er auf Nummer sicher gehen wollte?
Clemencia blätterte durch einen anderen Ordner. In einem Dokument von 1990 begründete ein Richter auf vierundzwanzig Schreibmaschinenseiten, wieso Donald Acheson gegen Kaution und Meldeauflagen aus der Untersuchungshaft zu entlassen sei. Zwischen den Zeilen war herauszulesen, dass die Beweislage dünn war und man nur mit zusätzlichen Zeugenaussagen weiterkäme. Vorangegangen war eine Auseinandersetzung zwischen Staatsanwaltschaft und dem Vertreter des Beschuldigten, ob es realistisch wäre, die nach Südafrika geflohenen Mitglieder des CCB-Regionalbüros 6 zur freiwilligen Aussage vor den namibischen Behörden zu bewegen. Das Problem bestand darin, dass Namibia inzwischen unabhängig geworden war. Eine Zwangsvorführung ausländischer Staatsbürger aus ihrem Heimatstaat war rechtlich nicht möglich. Ohne deren Aussagen schien eine Anklageerhebung gegen Acheson keinerlei Erfolg zu versprechen, sodass der Richter es trotz des erheblichen öffentlichen Interesses an der Aufklärung des Mordes nicht verantworten mochte, Acheson ad infinitum in Untersuchungshaft sitzen zu lassen.
«Natürlich ist Acheson nach Südafrika geflohen, sobald es ging», sagte Angula, als Clemencia fertig gelesen hatte. Sie stellte den Ordner zurück. Es würde Tage dauern, bis sie alles auch nur oberflächlich durchgesehen hätten. Clemencia packte sich die ersten fünf Ordner auf ihren Schreibtisch und teilte den Rest unter den anderen auf. Angula meinte, dass man vielleicht schneller an das Wichtige käme, wenn Clemencia den Richter von damals persönlich befragte. Der sei inzwischen pensioniert und habe sich auf seine Farm Lewensvrede eine halbe Autostunde außerhalb von Windhoek zurückgezogen.
Clemencia nickte. «Vielleicht könntest du mir die Nummer dieses Richters …»
«Fourie. Hendrik Fourie», sagte Angula. Er schob Clemencia einen Zettel mit der Telefonnummer zu und sagte fast entschuldigend, dass er sich erlaubt habe, diese im Obergericht zu erfragen.
Clemencia wusste, dass Angula der SWAPO reserviert gegenüberstand, doch das allein erklärte nicht, warum er es nie weiter als zum einfachen Constable gebracht hatte. Er mochte keine überragenden konzeptionellen Fähigkeiten haben, aber die ließ manch anderer, der Karriere gemacht hatte, auch vermissen. Angula war wenigstens zuverlässig, er besaß ein Gedächtnis wie ein Elefant, und was er anpackte, hatte Hand und Fuß. Clemencia konnte sich glücklich schätzen, ihn in ihrem Team zu haben.
Sie rief Ex-Richter Fourie an.
«Es geht um Lubowski, nicht?», fragte Fourie.
«Woher wissen Sie das?»
«Ich habe im Radio gehört, dass Slang van Zyl erschossen wurde.»
«Und Chappies Maree inzwischen ebenfalls.»
Ein paar Momente herrschte Stille am anderen Ende. Dann sagte Fourie: «Kommen Sie vorbei!»
Clemencia nahm die B1 Richtung Süden. Die Klimaanlage funktionierte nicht, aber solange Clemencia mit geöffneten Fenstern auf der Teerstraße Gas gab, kühlte der Fahrtwind einigermaßen. Als sie links auf die Sandpad abbog, meldete ihr Handy eine SMS. Sie kam von Miki Matilda und lautete: «Ruf mich an!»
Clemencia wählte die Nummer und fuhr langsam durch die Senke eines ausgetrockneten Riviers. Miki Matilda berichtete, dass der Zustand ihres Patienten Joseph Tjironda ernster als befürchtet sei. Sie wisse noch nicht, wer dahinterstecke, jedenfalls habe ein böser Zauber Tjirondas ganzes Haus befallen. Sie habe schon entsprechende Gegenmaßnahmen eingeleitet, doch bis die wirkten, könne Tjironda unmöglich dortbleiben. Er sei
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