Die Stunde des Schakals (German Edition)
geworden. Er wies noch eine Lücke von ungefähr zehn Schritten Länge auf. Außerhalb davon stand ein räderloses Autowrack, bis zu dem sich Angula vorgearbeitet hatte. Clemencia sah ihn nicht, doch sie konnte sich vorstellen, dass er bewegungslos am Blech lehnte, die Augen geschlossen, konzentriert, um ja nicht das Geräusch vorsichtiger Schritte zu verpassen, das leise Atmen eines heranschleichenden Killers.
Das Gerüst für den Wassertank stand etwas entfernt. Vorsichtig kletterte Clemencia die Leiter neben einer der Metallstreben hinauf. Sie schob sich auf eine Bretterplattform in etwa fünf Metern Höhe, entsicherte ihre Pistole und legte sie neben sich. Der massige Tank über ihr schirmte den Schein des Mondes ab. Ihre Position war nicht ideal, um unmittelbar eingreifen zu können, doch dafür bot sie einen freien Rundumblick über den Doppelzaun und die Dächer der Gebäude hinweg. Die Grillen zirpten, die Nacht lag grau und reglos über der Weite, nur zwischen den Hütten der Werft, in der Achesons Arbeiter mit ihren Familien wohnten, flackerte ein Feuer. Ab und zu drangen Stimmenfetzen bis zu Clemencia herüber.
Von dieser Seite würde der Killer kaum kommen. Vielleicht würde er überhaupt nicht kommen. Es war nicht auszuschließen, dass er den Polizeiwagen entdeckte, den sie unten im Nossob-Tal abseits der Straße gelassen hatten. Um ihn ordentlich zu tarnen, hatten sie weder die Zeit noch einen geeigneten Platz gefunden. Wenn man wusste, dass einen die Polizei erwartete, würde jeder normal denkende Mensch einen Angriff auf Achesons Festung doch unterlassen oder zumindest aufschieben. Aber was hieß das schon? Ein normal denkender Mensch zog sowieso nicht mit einer Kalaschnikow durchs Land, um andere hinzurichten. Und seien es auch ehemalige Apartheidsverbrecher.
Clemencia versuchte sich auszumalen, wie der Killer irgendwo da draußen in der Nacht saß. Für sie hockte er auf seinen Fersen, das Gewehr mit dem Kolben auf den Boden gestützt. Geduldig sah er zu, wie die Sterne über den Himmel wanderten, und wartete, bis seine Stunde kam. Genau so, wie Angula und sie mit einer Waffe neben sich auf ihn warteten. Wahrscheinlich würde er erst aufbrechen, wenn er Acheson im Tiefschlaf vermuten durfte. An seiner Stelle würde Clemencia gegen 3 Uhr losschlagen. Vorher würde sie die Lage mindestens eine Stunde lang beobachten. Vor 1 Uhr würde sich wohl nichts regen.
Das unaufhörliche Konzert der Grillen gab der Nacht ihren eintönigen Rhythmus. Es schien mit dem Dunkel verwoben zu sein, überall und nirgends seinen Ursprung zu haben. Fast mochte man glauben, dass gar nichts geschehen könnte, weil alles in dieser Dunkelheit aufging, weil jede Kreatur willenlos mitschwang in diesem fremden Gesang, der die Welt durchdrungen hatte. Und doch ging das Morden da draußen weiter. Das Fressen und Gefressenwerden, das Jagen und Gejagtwerden.
Clemencia fragte sich, wie der Killer unbemerkt ins Haus gelangen wollte. An den Bullterriern war nicht vorbeizukommen. Durch eines der verrammelten Fenster? Übers Dach und durch den Schornstein? Ob der Killer einen Plan ausgearbeitet hatte? Er konnte nicht damit rechnen, Acheson ebenso zu überraschen wie seine bisherigen Opfer. Der fast fertige Doppelzaun, die vernagelten Fenster, die Bullterrier vor der Tür bewiesen ihm, dass er erwartet wurde. Auch wenn er den Streifenwagen nicht entdeckt hatte, musste er deshalb zumindest in Erwägung ziehen, dass die Polizei informiert war und ihm eine Falle stellte. Nein, nach menschlichem Ermessen würde er keinen Angriff wagen.
Vom Lagerfeuer in der Werft war nur noch ein schwaches rotes Glimmen übrig. Clemencia starrte in die Nacht. Sie wusste nicht, wieso, aber sie war sich sicher, dass der Killer es trotzdem versuchen würde. Und irgendwie würde er es schaffen, Acheson zu stellen. Keiner von beiden würde einen Moment zögern. Sie würden schießen, bis einer tot am Boden lag. Der unbekannte Killer hatte bewiesen, dass er nicht weniger unbarmherzig als Acheson zu Werke ging, und doch war es anders, war er anders als Acheson. Ihm ging es nicht um die Lust an der Zerstörung, sondern darum, die Lubowski-Mörder zur Rechenschaft zu ziehen. Wenn er das geschafft hatte, würde er wahrscheinlich die Kalaschnikow vergraben und keiner Fliege mehr etwas zuleide tun. Doch woher kam diese wilde Entschlossenheit? Dieser unbändige Hass, der keine Lösung außer dem Tod anerkannte? Clemencia war inzwischen sicher, dass er in etwas sehr
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