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Die Stunde des Venezianers

Titel: Die Stunde des Venezianers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cristen Marie
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gewann weder der ständigen Kontrolle der Bücher noch der lästigen Korrespondenz etwas ab.
    Colard musste seiner Wut freien Lauf lassen, sonst wäre er geplatzt. Ohne lange Vorrede kam er auf den Punkt.
    »Es ist unerträglich. Ruben hat in Gent unsere letzten Goldreserven aus dem Fenster geworfen. Ihr seid beide unfähig, ein Handelshaus zu führen. Euer Unvermögen und das von Ruben führen uns in den Ruin. Und ich soll dann womöglich noch dafür geradestehen. Glaubt Ihr eigentlich, ich wäre Euer Hofnarr?«
    »Beherrsche dich«, unterbrach Sophia seinen Ausbruch heftig.
    Sie thronte auf einem geschnitzten Stuhl vor dem Kamin. Statt des üblichen Feuers standen zur Sommerzeit grüne Zweige in einem Krug auf der gesäuberten Feuerstelle. Sie bildeten einen grünen Rahmen für die schwarz gekleidete Frau, deren Füße im Sitzen kaum den Boden berührten. Sophia war klein, auch im Stehen reichte sie Colard nur bis zur Mitte des Oberarmes. Was ihr an Größe fehlte, machte sie jedoch durch Fülle wett.
    In ihrer Jugend hatte sie die rundlichen Formen einer flämischen Jungfer und eine verblüffende Ähnlichkeit mit ihrem stämmigen Vater gehabt. Mit zunehmendem Alter waren die Rundungen schlaff geworden. An den Fingern schnitten die Ringe tief in die Haut. Der schwarze Seidenbrokat ihrer Bluse wurde von einem mächtigen Busen gespannt. Eine Kette aus Korallen und Flussperlen hob und senkte sich bei jedem Atemzug.
    »Dich zerfressen Ehrgeiz und Neid«, behauptete sie und deutete mit einem Finger auf Colards Brust. »Du kannst es nicht ertragen, nicht alleine zu herrschen. Es macht es nicht besser, wenn du Ruben und mich beleidigst.«
    Colard hatte diesen Vorwurf schon so oft gehört, dass er ihn nicht beeindruckte.
    »Tatsache ist«, stellte er energisch fest, »dass dein Sohn dem Herzog Gold geliehen hat, das zur Bezahlung der nächsten Wolllieferung bestimmt war. Was übrigbleibt, sollte uns gewinnbringende Anteile am Handel mit Olivenöl aus Lissabon sichern.«
    Sophia war um eine Erklärung nicht verlegen.
    »Ruben hat sicher seine Gründe, dem Herzog unter die Arme zu greifen. Der Herzog wird in Zukunft vertrauenswürdige Männer in Flandern brauchen.«
    »Was soll das heißen? Noch regiert der Herzog nicht in Flandern. Der Graf von Flandern ist unser Herr, und ob es gut war, dass er uns diese Ehe eingebrockt hat, bezweifle ich. Der englische König wird sich dafür rächen, dass sein Sohn nicht zum Zuge gekommen ist. Er wird neue Schikanen für den Wollhandel ersinnen.«
    »Wenn der englische König angenommen hat, dass die Erbin von Flandern seinen Sohn heiratet, dann ist er ein Dummkopf.«
    »Wie auch immer.« Colard fixierte sie. »Unser Problem ist Euer Sohn. Ruft ihn nach Brügge zurück. Gebt vor, Ihr wäret plötzlich krank geworden. Wir müssen so schnell wie möglich wissen, was er dem Herzog unter welchen Bedingungen zugesagt hat.«
    »Ich denke nicht daran«, weigerte sich Sophia strikt. »Tu du deine Arbeit und lass Ruben die seine tun. Wenn es ihm gelingt, sich dem Herzog von Burgund zu empfehlen, steht dem Haus Cornelis eine glänzende Zukunft bevor.«
    Colard raufte sich das Haar. Sophia liebte ihren Sohn blind und überschätzte ihn. Ruben sah gut aus und konnte mit seinem Charme und seinem Auftreten fast jeden für sich einnehmen, aber seine hochfliegenden Pläne entbehrten jeder vernünftigen Grundlage.
    »Ihr täuscht Euch, Tante Sophia. Es ist pure Einfalt, die Euch so denken lässt. In den Augen des Herzogs ist ein Kaufmann wie Ruben ein Niemand.«
    »Nicht mein Sohn. Und jetzt will ich sofort von deinen Ungehörigkeiten verschont bleiben.«
    Colard stürmte aus dem Raum. Der ganze Reichtum, der ihn umgab, all die kostbaren Wandteppiche, die geschnitzten Paneele und Türstöcke, die verglasten Fenster und das Silberzeug in den Schauschränken, war wie Öl auf das Feuer seiner Wut. Totes Kapital. Nichts als totes Kapital, kochte es in ihm. Nichts von dem ganzen Plunder war in bare Münze umzusetzen.
    Er floh in sein Gemach, das sich im ältesten Teil des Hauses hinter dem Kontor befand. Sein Vater hatte es nach dem Tod seiner Mutter bewohnt und vor ihm sein Stiefgroßvater Piet Cornelis. Im Vergleich zum Prunk der offiziellen Gemächer, die Ruben und seine Mutter bewohnten, war es eine bescheidene Kammer mit einem einzigen Fenster, das auf einen schmalen Kanal hinausführte. Ein mächtiger Alkoven mit einem geschnitzten Betthimmel aus Lindenholz, ein quadratischer Tisch, ein Stuhl mit Lehne

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