Die Stunde des Venezianers
die Tür hinter sich zuwarf. Er erhob sich und trat ans Fenster. Immer wieder stand ihm Ruben mit seinen spontanen Entscheidungen und seinen überstürzten Plänen im Weg. Hatte er sich etwas Bestimmtes davon erwartet, Ballard die Koralle zu überschreiben?
Er war dem Kapitän nicht gram, er konnte ihn sogar verstehen. Es war das Privileg der Seeleute, auf Fernreisen in geringem Umfang eigenen Handel zu treiben. Die Gewinne aus dem Verkauf ihrer Waren erhöhten die Heuer und entschädigten für die Gefahren der Reise. Der bloße Wein- und Wolltransport über den Kanal nach England, ohnehin ständig blockiert durch Kriegshandlungen oder Embargos, brachte ihnen weder zusätzlichen Verdienst noch Erlös. Er sah, dass Ballard Joris im Hof begegnete. Die beiden sprachen miteinander und nickten bedeutsam. Vermutlich waren sie sich darin einig, dass früher alles besser gewesen war.
Grimmig wandte er sich um und wieder den Papieren auf dem Tisch zu. Piet Cornelis war ein Fuchs gewesen. Ein gewiefter Händler und ein trickreicher Handelsherr. Wo, wenn nicht bei ihm, war ein Weg aus dem Chaos zu finden? Bis Ruben nach Hause kam, musste er ihm einen fix und fertigen Plan präsentieren. Eine Strategie, die auch ihm keinen anderen Ausweg ließ.
Das Ergebnis seiner Überlegungen besprach er wenige Tage später mit Joris.
»Die Zisterziensermönche von Meaux, im Norden des englischen Königreiches, besitzen eine der größten Schafherden der Insel. Meaux liegt in der Mündung des Humber. Die Koralle könnte direkt nach Meaux segeln und die komplette Wolle der Mönche an Bord nehmen. Es würde die Ausfuhrsteuer senken, wenn wir …«
»Wie soll das gehen?«, erhob Joris Einspruch. »Die Steuer ist genau festgesetzt, es wird allgemein sogar mit einer Erhöhung gerechnet.«
»Denk nach, Joris. Rohwolle wird in enormen Säcken transportiert, die so groß wie ein Fuhrwerk sind. Nach der Anzahl der Säcke bemisst sich die Steuer. Je nach Wollqualität sind in einem Sack zwischen 180 bis 250 Vliesen. Je feiner das Vlies, umso besser lässt es sich pressen und umso mehr davon passt in einen Sack. Wenn die komplette Lieferung aus hochwertigster Rohwolle besteht, haben wir weniger Säcke, bezahlen deswegen geringere Steuer und können am Ende dennoch mit der größeren Tuchausbeute rechnen. Die Schafe in Yorkshire geben die feinste Wolle, die wir uns wünschen können.«
»Nur die Schiffe der Hansekaufleute wagen sich so hoch in den Norden«, sagte Joris nachdenklich. »Zudem haben die Kaufleute aus Florenz den Handel mit der englischen Rohwolle fest im Griff. Sie bieten den Engländern das Geld im Voraus und haben uns damit vom Markt verdrängt. Wir müssen uns an sie wenden, wenn wir Rohwolle kaufen wollen, und der größte Teil des Exports geht über London.«
»Und genau hier wird mein Plan auch für die Mönche interessant.« Colard hatte genau über alles nachgedacht. »Sie brauchen ihre riesige Wollproduktion nicht mehr in den Hafen von London zu transportieren. Das spart ihnen Transportkosten und Zölle. Sie können ihre Preise frei mit uns verhandeln und müssen sich nicht mehr gegen den Konkurrenzdruck der anderen Wollverkäufer in der Hauptstadt behaupten.«
»Zugegeben, es klingt verlockend, aber warum ist noch niemand auf diese Idee gekommen?«
»Weil sich die Mönche von Meaux bisher jedem exklusiven Kontrakt verweigert haben. Schon Rubens Großvater hat den Versuch gemacht, ein solches Abkommen zu schließen, aber der damalige Abt wollte nichts davon wissen. Ich habe die Unterlagen darüber gefunden. Es ist an der Zeit, einen neuen Vorstoß zu wagen.«
»Du willst Ballard zu den Mönchen schicken?«
»Nicht den Kapitän. Ruben. Wenn er ein ausgeprägtes Talent besitzt, dann ist es seine Fähigkeit, Menschen zu überzeugen. Er wird mit der Koralle zum Humber segeln, um diesen Vertrag auszuhandeln. Ballard wird die Reise in den Norden für eine seemännische Herausforderung halten, und Ruben kann zeigen, was wirklich in ihm steckt. Mit der Wolle aus Yorkshire stellen wir exklusives Brügger Tuch her, für das man uns jeden Preis zahlt. Ruben muss aufbrechen, sobald seine Ehe mit Gleitje Korte geschlossen ist.«
Joris machte eine bedeutsame Kopfbewegung zum offenen Fenster. Colard vernahm die Stimme seiner Tante Sophia, die eine Magd ausschalt.
»Sie wird nie und nimmer erlauben, dass Ruben die Planken eines Schiffes betritt. Hast du schon vergessen, dass ihr Mann auf dem Meer geblieben ist?«
»Meine Tante
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