Die Stunde des Venezianers
blieb Colard stehen und starrte auf den dunklen Kanal hinab. Aus der nahen Stoofstraat mit ihren vielen Badehäusern drang Gesang und fröhliches Gelächter. Irgendetwas drängte sich in seine Gedanken, flüchtig, kaum fassbar. Es hing mit den engen Mauern der Stoofstraat zusammen, die nur wenig breiter waren als eine Brandgasse.
Colards Erinnerung kam mit einem Schlag.
Der Stellvertreter Contarinis war Abraham ben Salomon.
9. Kapitel
B RÜGGE , 5. J ULI 1369
»Das ist kein Haus, das ist ein Schloss!«
Das Gebäude aus rotem Backstein mit seinen Treppengiebeln verdiente wahrhaftig Aimées ganze Bewunderung. Weder die Burg von Andrieu noch der Palast der Herzöge von Burgund in Dijon ließen sich mit ihm vergleichen. Sandstein-Maßwerk, Balustraden wie Bordüren und Glasscheiben in jedem Fenster kündeten von Reichtum.
»Das alles gehört deiner Familie?«
»Was hast du erwartet, eine Färberhütte?« Ruben gefiel, dass sie beeindruckt war. »Die Cornelis' zählen zu den ersten Familien von Brügge. Wir sind Patrizier. In Bedeutung und an Ansehen jedem Edelmann gleich.«
Die beiden mehrstöckigen Gebäude, im Winkel an einen Rundturm gebaut, der sie überragte, überwältigten durch ihre schiere Größe. Aimée nahm die anschließenden Lagerhäuser, Speicherschuppen, Remisen und Ställe daneben kaum wahr.
Seit Brügge, in seinem Stadtmauerring mit seinen Türmen und den Windmühlen auf Dämmen, vor ihnen aufgetaucht war, kam sie aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sie hatte sich von Ruben überreden lassen, dem Reisezug voraus zueilen, und war an seiner Seite hoch zu Ross durch das Gewühl am Genter Tor in die Stadt gekommen.
Ich bin in Brügge, Großmama, war ihr erster Gedanke gewesen.
»Aus dem Sattel mit dir, Aimée Cornelis! Du bist zu Hause!«
Sie ließ sich in Rubens Arme gleiten und sah über seine Schulter hinweg zwei Frauen aus dem rechten Flügel des Hauses auf die Freitreppe treten. Eine füllige Matrone in dunklem Samt und eine Magd mit weißer Flügelhaube, die ihr die Treppen hinabhelfen wollte. Sie wurde unwillig zur Seite geschubst.
»Ruben! Ruben!« Ein schriller Schrei.
Aimée spürte ihren Mann zusammenzucken. Ein Anflug von Ärger blitzte in seinen Augen auf. Er stellte Aimée mit einem Ruck zu Boden.
»Meine Mutter. Nun denn – bringen wir es hinter uns.« Ehe Aimée sich fragen konnte, was er damit meinte, eilte die Frau trotz ihres bemerkenswerten Umfanges und ohne Hilfe der Magd auf sie zu. Die Arme weit ausgestreckt, umklammerte sie Rubens Oberkörper. Sie schluchzte, lachte und redete zugleich, als sei es ein Wunder des Himmels, ihn wiederzusehen. Der Gefühlsausbruch wirkte übertrieben und unangemessen.
Ruben erduldete die überschwängliche Begrüßung stoisch. Er schien an dergleichen gewöhnt. Das lautstarke Lamentieren rief jedoch einen blonden Mann in grauem Tuch auf den Plan. Vetter Colard, vermutete Aimée. Sie erinnerte sich an Rubens Bemerkung, dass er sich von Aktenstaub ernähre. Er sah viel zu jung aus, um schon so verknöchert zu sein.
»Ruben, willkommen zu Hause. Du hast dir reichlich Zeit gelassen, meiner Bitte zu folgen«, klang seine nüchterne Stimme über den theatralischen Auftritt seiner Tante hinweg.
Aimée spürte, dass er sie musterte, obwohl er kein Wort über ihre Anwesenheit verlor. Sie trug einen Schleier und hatte die Kapuze des Reitumhanges darübergeschlagen, um Gesicht und Haar ebenso vor Staub wie vor Sonne zu schützen. Sie wollte nicht braun wie eine Bäuerin vor ihrer neuen Familie erscheinen.
»Ich hatte eben noch zu tun«, grinste Ruben und befreite sich energisch aus der mütterlichen Umklammerung.
Er streckte die Hand nach Aimée aus, und sie trat an seine Seite. Seine Mutter verengte die blassblauen Augen zu verdrießlichen Schlitzen.
»Wen bringst du uns ins Haus, Ruben?«
In Aimées Ohren klang die Frage nicht gerade freundlich. Ruben drückte beruhigend ihren Arm und schenkte seiner Mutter ein strahlendes Lächeln.
»Ich bringe Euch eine Tochter, Mutter. Ich bitte Euch, Aimée Cornelis, meine Frau, unter unserem Dach willkommen zu heißen. Aimée: meine Mutter Sophia Cornelis und mein Vetter Colard de Fine. Sie sind jetzt auch deine Familie.«
Aimée strich höflich die Kapuze vom Haar und schlug den Schleier zurück, ehe sie anmutig vor Sophia knickste. Sie nahm an, sie würde sich zu ihr neigen und sie in eine Umarmung ziehen, aber nichts geschah. Schweigen lag über dem weiten Hof und wurde qualvoll. Aimée erhob
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