Die Stunde des Venezianers
in Begleitung einer Dienerin das Haus verließ. Sie trug ein unauffälliges, aber elegantes grünes Leinengewand, und er hatte keine Mühe, sie bis zur Kirche zu verfolgen.
Die Morgenmesse in der Liebfrauenkirche an der Mariastraat wurde in erster Linie von den Bewohnern des umliegenden Stadtteiles besucht, und an einem Wochentag beteten dort überwiegend Frauen, deren Väter, Ehemänner und Brüder um diese Zeit bereits ihrem Tagewerk nachgingen.
Domenico war freilich nicht der einzige Mann, der sich unter die fromme Schar mischte. Händler und ausländische Besucher nahmen gerne, und so auch heute, teil.
Die Frau im grünen Leinenkleid entzündete am Seitenaltar der Muttergottes eine weiße Opferkerze, ehe sie zum Gebet auf die Knie sank. Das Profil über die gefalteten Hände gesenkt, war sie so in ihre Fürbitte vertieft, dass sie nichts um sich herum wahrnahm.
Als sie sich bekreuzigte, reflektierte ein Stein am Ring an ihrer Hand das Kerzenlicht. Domenico war nicht fromm genug, es für ein Zeichen des Himmels zu halten, aber ein gutes Omen schien es ihm allemal zu sein.
Sobald sie sich erhob und dem Ausgang zustrebte, folgte er ihr wieder in sicherem Abstand. Er musste mit ihr sprechen, aber wie sollte er beginnen. Es gehörte sich nicht, einer Frau von Stand auf der Straße dreiste Fragen zu stellen.
Aimée beschleunigte den Schritt. Sie bemerkte sehr wohl, dass ihr derselbe Mann folgte, der schon auf dem Weg zur Kirche ihren Argwohn erregt hatte. Sogar in einer Stadt voller Fremder war etwas an seiner Gestalt, das ihn von anderen unterschied.
Die Menschen machten ihm Platz. Sie konnte nicht sagen, ob aus Respekt oder Furcht. Seine achtunggebietende tiefschwarze Kleidung wurde kontrastiert von einer gewissen Lässigkeit seiner Bewegungen, stellte sie im Stillen für sich fest. Dass er ihr erneut folgte, konnte unmöglich Zufall sein.
Sie war so abgelenkt, dass sie nicht genug auf den Weg achtete. Bei einer Unebenheit der Straße geriet sie ins Straucheln. Noch bevor Lison sie abfangen konnte, war Domenico blitzschnell an ihrer Seite. Mit einem energischen, jedoch rücksichtsvollen Griff nach ihrem Arm verhinderte er ihren drohenden Sturz.
»Verzeiht bitte. Ich wollte Euch lediglich zu Hilfe kommen.«
Aimée sah in die tiefgründigsten Augen, in die sie je gesehen hatte. Das bräunlich getönte Männergesicht erschien ihr weder schön noch hässlich. Eine scharf geschnittene Nase und ein Mund, der Lebensgenuss wie Zynismus verriet, vervollständigten das Bild eines Mannes, der unter den stämmigen Flamen fremdartig wirkte.
Er hatte sich auf Französisch entschuldigt. Es klang geläufig, aber nicht so, als sei es seine Muttersprache.
Aimée bedankte sich geziemend für seine Hilfe. Sie war sich der besonderen Ausstrahlung des Fremden bewusst, ebenso wie der neugierigen Blicke der Vorübergehenden. Sie erregten Aufsehen, und genau das missfiel ihr.
Domenico entdeckte die eingezogene Mittelfalte auf ihrer makellosen Stirn. Er musste schnell reagieren. Eine günstigere Gelegenheit, sie anzusprechen, würde sich so schnell nicht mehr ergeben. Er gedachte nicht, viele Umstände zu machen, und fragte direkt.
»Erlaubt: Ihr seid Aimée von Andrieu, nicht wahr? Stimmt es, dass die Stammburg Eurer Familie in der Comté liegt?«
Ein flüchtiger Anflug von Traurigkeit berührte sie, ehe sie bestimmt antwortete. »Ich bin Aimée Cornelis, die Frau des Ruben Cornelis, Handelsherr in Brügge.«
»Euer Oheim ist Jean-Paul von Andrieu?«
Er hatte sie verblüfft, er konnte es unschwer erkennen. Ihre Augen verengten sich, und ihre Stimme wurde unverbindlich. Sie fühlte sich von ihm bedrängt, aber sie bewahrte Haltung.
»Ich möchte bitte meinen Weg fortsetzen.«
Es gab keine Möglichkeit, mehr von ihr zu erfahren. Mit einer Reverenz trat er zur Seite.
»Entschuldigt meinen Übereifer. Gott schütze Euch, Aimée Cornelis. Ich bin sicher, wir werden uns noch offiziell vorgestellt.«
Eine bemerkenswerte Frau, grübelte Domenico Contarini auf dem Rückweg. Die kurze Begegnung hatte Eindruck hinterlassen.
15. Kapitel
B RÜGGE , 4. A UGUST 1369
»Wach auf, Aimée. Es ist Zeit zum Abschiednehmen.«
Hartnäckiges Rütteln an der Schulter riss sie aus dem Schlaf. Sie blinzelte verwirrt in das Licht der Stundenkerze. Ihr Mann saß auf der Kante des Alkovens, in einen dunklen Umhang gehüllt, den Kopf mit einer Kappe bedeckt.
»Es ist mitten in der Nacht. Was hast du vor?«
Sie hüllte sich hastig in ihre Decke.
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