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Die Stunde des Venezianers

Titel: Die Stunde des Venezianers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cristen Marie
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Ruben ahnte, wovor sie sich schützen wollte.
    »Für diese Art von Abschied bleibt uns leider keine Zeit, meine Liebe. Gib mir einen Kuss und bete für meine gesunde Rückkehr. Die Koralle läuft mit der Morgenflut aus.«
    »Schon heute?«
    Aimée kam langsam zu sich. War nicht beschlossen worden, dass er noch warten sollte, wie sich der Krieg mit England entwickeln würde? Calais war fest in englischer Hand. Von dort wurde ein großer Teil des Schiffsverkehrs im Kanal kontrolliert. Colard war der Ansicht gewesen, man solle kein Risiko eingehen. Es war nicht sicher, wie die Engländer auf flämische Schiffe reagieren würden.
    Seit sich Eduard III. als Reaktion auf die Beschlüsse des französischen Kronrates, wieder König von England und Frankreich nannte, hatten sich die Fronten verhärtet. Der oberste Feldherr der französischen Krone, Bertrand du Guesclin, warb neue Söldner an, und seine Truppen führten im Poitou einen systematischen Kleinkrieg gegen die Engländer.
    »Der Plan hat sich geändert«, antwortete Ruben, ohne weitere Gründe zu nennen.
    »Also schleichst du dich hinter Colards Rücken davon?« Aimée durchschaute ihn. Er hielt sich wieder einmal nicht an die Absprache, musste seinen Kopf durchsetzen. »Was geht in deinem Kopf vor, dass du jede Vorsicht außer Acht lässt?«
    »Es ist zu kompliziert, es dir zu erklären. Sei nicht so ängstlich. Die Aufgabe muss so schnell wie möglich erledigt werden. Wenn ich zurückkomme, werden sich unsere ganzen Probleme in Wohlgefallen aufgelöst haben.«
    »Geh bitte nicht, ohne mit Colard zu sprechen«, bat sie eindringlich.
    Ihr Verhältnis zu Colard mochte angespannt sein, seinen praktischen Verstand schätzte sie. Er war ein Korrektiv zu Rubens unbekümmertem Draufgängertum. Colard konnte ihn vielleicht doch noch zur Vernunft bringen, ohne seinen empfindlichen Stolz zu verletzen.
    »Besser nicht«, lehnte er ihren Vorschlag ab. »Er würde mich bis zur Morgenmesse aufhalten und den ganzen Zeitplan durcheinanderbringen.«
    »Also erwartest du, dass er deine Abreise missbilligt? Ruben, ich bitte dich, bleib …«
    Ihr Flehen erstickte Ruben in einem leidenschaftlichen Kuss.
    Mit den Worten »Der Himmel behüte dich, meine Liebste. Grüße meine Mutter und bleib mir treu« war er auch schon aus der Tür.
    An Schlaf konnte Aimée jetzt nicht einmal mehr denken. Sie stieg aus dem Alkoven und warf ein leichtes Hemd über. Fröstelnd rieb sie sich die Arme, während sich ihre Gedanken überschlugen.
    Ich hätte ihn um jeden Preis aufhalten müssen!
    Noch wäre es nicht zu spät, Colard zu alarmieren. Aber was würde Ruben sagen. Illoyalität würde er ihr vorwerfen.
    Je länger sie nachdachte, umso dubioser kam ihr Rubens heimlicher Aufbruch vor. Eine rechtschaffene Unternehmung erforderte keine Heimlichkeit. Hätte sie ihm doch nur mehr über seine Pläne entlocken können.
    Rubens Pläne. Der Herzog hat mich ausdrücklich vor ihnen gewarnt.
    Aber es war doch nur eine Handelsreise. Wer sollte es dem Haus Cornelis verübeln, dass es neue Wege in der Wollbeschaffung ging?
    Der grau heraufdämmernde Morgen fand Aimée noch immer im Kampf mit ihren Befürchtungen. Dichtes Gewölk verbarg die Sonne. Schon den dritten Tag in Folge regnete es ohne Unterlass. Die Bauern vor der Stadt fürchteten um die Getreideernte. Das Wasser in den Kanälen stieg unaufhaltsam. In den ärmeren Gassen von Brügge wühlten die Unratschweine bereits bis zum Bauch im Schlamm. Welch schreckliches Wetter für einen Aufbruch nach England. Auf dem Meer sah man bestimmt kaum die Hand vor Augen.
    Schmugglerwetter.
    Der Satz ›Ein Schiffsbauch voller Waffen ist in England gutes Gold wert‹ stieg auf aus den Tiefen ihrer Angst. Er machte aus ihren unbestimmten Ängsten Gewissheit. Aimée musste sich an einer Säule des Alkovens abstützen. Ihre Knie gaben nach, jeder Zweifel verflog: In den Lagerräumen der Koralle befanden sich Waffen und Rüstungen für die englischen Truppen!
    Als der erste Schock abebbte, kam die Übelkeit. Lison fand ihre Herrin kreidebleich, als sie sie wecken wollte. »Lieber Himmel, warum habt Ihr mich nicht gerufen?«, rief sie voller Mitgefühl.
    Aimée richtete sich schwankend auf. Sie wehrte Lisons Hilfe schroff ab. Müde und verängstigt, wollte sie nur in Ruhe gelassen werden. Aber Lison ließ sich nicht einfach davonschicken.
    »Es geht gleich vorüber, Ihr werdet sehen«, meinte sie beruhigend. »Sobald Ihr eine Kleinigkeit gegessen habt, fühlt Ihr Euch

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