Die Stunde des Venezianers
Sophias Stimme überschlug sich beinahe bei dem Wort Schiff. Sie zog den Vokal des Wortes dabei schrill in die Länge und wurde kreidebleich. »Du bist schuld!«, schrie sie und deutete mit dem Löffel auf Aimée, ohne darauf zu achten, dass sie Soße über den Tisch verspritzte. »Hätte er Gleitje Korte geheiratet, müsste er nicht sein Leben aufs Spiel setzen.«
Sophia machte es ihr leicht, auch die restlichen unliebsamen Wahrheiten preiszugeben. Aimée erhob sich.
»Ich fürchte, es gibt noch schlimmere Nachrichten. Ruben will heimlich Waffen an die Engländer liefern. Ihr solltet für alle Fälle unsere Lagerbestände prüfen lassen, Colard.«
Begleitet von Colards Flüchen und Sophias hysterischem Aufschluchzen schloss sie die Tür hinter sich. Welch ein Tag. Dabei hatte er noch nicht einmal richtig begonnen. Sie trat an die Balustrade des breiten Treppenabsatzes und sah aus der ersten Etage in die Eingangshalle. Die Ruhe, die sie ausstrahlte, die besondere Atmosphäre des schönen Hauses wurde ihr bewusst und dass ihr Zuhause verloren wäre, wenn Ruben sie alle ins Verderben riss. Wo sollte ihr Kind aufwachsen?
Die Eingangstür öffnete sich. Sie hörte den Gruß des Türwärters. Ein Gast, ein Kunde, ein Bote konnte es sein. Der Gegengruß des Fremden ließ Aimée den Mann sofort an der Stimme erkennen. Was wollte er?
Dunkel gekleidet betrat er die Halle, blieb stehen, den Blick nach oben auf sie gerichtet. Er hatte sie sofort entdeckt, oder hatte der Türsteher ihn auf sie verwiesen?
Auf dem schwarz-weißen Quadratmuster des Hallenbodens wirkte er wie der Schachkönig. Ihre Großmutter hatte ihr einmal das Schachspiel erklärt, das Großvater wohl bis zu seinem Tod leidenschaftlich gespielt hatte.
Sie beugte sich über das Geländer, sah ihm fragend in die Augen.
»Seid mir gegrüßt, Frau Cornelis«, verneigte er sich zuvorkommend. »Hatte ich Euch nicht prophezeit, dass wir uns wiedersehen werden? Darf ich mich vorstellen? Domenico Contarini, von der Brügger Niederlassung der gleichnamigen Bank in Venedig. Ich hätte gerne in geschäftlichen Dingen ein paar Worte mit Herrn de Fine gesprochen. Ist das möglich?«
Contarini? Aimée erinnerte sich. Beim Streit im Wolllager, im Zusammenhang mit einem Darlehen, war der Name gefallen. Sie zwang sich zu kühler Höflichkeit.
»Geduldet Euch bitte einen Augenblick. Ich werde in Erfahrung bringen, ob Vetter de Fine erreichbar ist.«
Von neuem den Raum zu betreten, in dem Rubens Mutter heftiger schluchzte als zuvor, kostete sie Überwindung. »Ein Messer Contarini ist in der Halle und wünscht Euch zu sprechen«, wandte sie sich an Colard.
»Auch das noch. Nicht jetzt. Nicht heute.«
Colard antwortete, ohne nachzudenken, und Aimée gab seine Antwort kurz entschlossen weiter.
»Herr de Fine bedauert. Heute kann er leider keine Zeit für Euch erübrigen.«
Sie sah kurz Zorn bei ihm aufblitzen, aber im nächsten Augenblick entbot er ihr ein vieldeutiges Lächeln.
»Mein Besuch war dennoch nicht vergeblich. Er gab mir die Gelegenheit, Euch wiederzusehen, Frau Cornelis. Habt Ihr schon von Eurem Onkel gehört? Wann erwartet Ihr ihn?«
»Ihr habt eine aufreizende Art, Euch um die Dinge fremder Menschen zu kümmern. Ich nehme aber gerne die Gelegenheit wahr, Euch noch einmal in aller Form für Eure Hilfe neulich zu danken«, wies sie seine Fragen so höflich wie möglich zurück.
Als Domenico Contarini das Haus verlassen hatte, hatte Aimée Zeit, sich zu fragen, warum Colard ein Gespräch mit ihm so abrupt ablehnte. Man wies einen Bankier nicht einfach so vor die Tür, auch wenn man gerade in schlechter Verfassung war. Hatten die Cornelis' etwas zu befürchten von ihm. Bedrohliches von allen Seiten. Warum bedrängte sie dieser Contarini so hartnäckig mit seiner für sie unverständlichen Neugier auf ihre Verwandtschaft? Rätsel über Rätsel.
Contarini war ein Lombarde, das wusste sie nun. Man nannte im Königreich Frankreich alle Bankiers und Geldwechsler aus dem Süden so, egal ob sie aus Venedig, Florenz oder Genua kamen. Unter König Philipp dem Schönen waren sie stark und mächtig gewesen. Die florentinischen Brüder Guidi hatten dem König lange Jahre als Finanzberater gedient.
Ihr Reichtum besiegelte ihren Untergang. 1309 ließ der König alle Lombarden vertreiben und konfiszierte ihr Vermögen. Ihnen erging es nicht besser als drei Jahre zuvor den Juden. Inzwischen hatten die Lombarden sowohl in Paris wie in Brügge ihre finanzpolitische Macht
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