Die Stunde des Venezianers
wieder besser. Sicher ist der Herr außer sich vor Freude.«
»Mit Sicherheit«, erwiderte Aimée gereizt, ohne sich Gedanken darüber zu machen, was Lison wohl gemeint haben konnte.
Ruben sah die Gefahr nicht, in die er sie alle brachte. Für ihn zählte allein das Abenteuer. Ein Abenteuer, das ihm eine Anklage wegen Verrates einbringen und seine Familie vernichten würde.
Was redete Lison da eigentlich?, besann sie sich plötzlich. »Ein Frühlingskind, das ist gut«, schwatzte die Magd soeben und legte Aimées Kleider bereit. »Kinder, die im Frühling geboren werden, sind bereits aus dem Gröbsten heraus, wenn der Winter kommt. Sie sind gesünder und haben bessere Chancen, die erste gefährliche Zeit zu überleben.«
»Was redest du für dummes Zeug?«, rief Aimée und begriff im selben Augenblick, dass nicht Lison, sondern sie selbst der Einfaltspinsel war.
Ich bin schwanger. Ich bekomme ein Kind von Ruben. Sie war ihrer Großmutter oft genug zur Hand gegangen, wenn sie sich um das Wohl und Wehe der Bewohner von Andrieu kümmerte. Sie kannte alle ersten Anzeichen einer Schwangerschaft, zu denen auch die Morgenübelkeit zählte. Warum hatte sie nicht daran gedacht. Sie war in den letzten Tagen zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt gewesen.
Selbstvergessen legte sie die Handflächen mit weit gespreizten Fingern auf ihren Bauch. Sie sah zu Lison und erkannte deren Verwunderung.
»Ihr habt es nicht gewusst?«
Aimée schüttelte den Kopf. »Wie es aussieht, bin ich die Törichte von uns beiden. Tu mir einen Gefallen, Lison, behalte die Neuigkeit für dich. Ich möchte nicht, dass es bekannt wird, ehe mein Mann …«
Zurückkommt wollte sie sagen, aber sie behielt es für sich.
»Ihr wollt ihm diese Neuigkeit selbst überbringen, das verstehe ich«, nickte Lison verständnisvoll. »Ihr könnt Euch auf mich verlassen.«
Sie wandte große Sorgfalt auf, ihre Herrin zu kleiden. Eine weiße Haube mit modisch gerüschten Kanten verlieh dem Sommergewand aus veilchenfarbenem Zindeltaft höfische Eleganz. Aimée ließ solche Extravaganzen normalerweise nicht zu, aber heute bemerkte sie es gar nicht, so tief war sie in Gedanken versunken. Was würde ihre Großmutter zu ihrem Urenkel sagen? Den vertrauten Ring berührend, schickte sie einen Gruß nach Andrieu.
Ich bekomme ein Kind. Ist das nicht wundervoll?
»Der Herr wird Euch auf Händen tragen.« Lison trat zurück, nachdem sie die letzte Falte geordnet hatte. Sie öffnete die Tür für Aimée.
Ruben. Aimées Freude wurde augenblicklich getrübt durch die Sorge, dass der Vater ihres Kindes Gefahr lief, als Waffenschmuggler entlarvt zu werden. Das neue Leben musste um jeden Preis geschützt werden. Je weniger Menschen von ihm wussten, umso sicherer war es. Auf Lisons Schweigen konnte sie sich verlassen, und alle anderen durften noch nichts erfahren.
Besonders Rubens Mutter nicht.
Sophia thronte am Kopfende des Tisches, als Aimée in den großen Wohnraum trat und ebenfalls Platz nahm. Wie üblich ignorierte sie ihren Gruß. Die Magd, die Sophia aufwartete, knickste.
»Du kommst spät«, tadelte Sophia Aimée stattdessen mit vollem Mund. »Es gehört sich nicht, morgens zu trödeln.«
Aimée hatte es längst aufgegeben, auf derlei Vorwürfe zu reagieren. Sie dankte der Magd mit einem Nicken für die Milchsuppe und versuchte zu essen. Vergeblich. Ihre Kehle war wie zugeschnürt.
»Wo ist Ruben?«
Colard stürmte in den Raum. Sophia erschrak. Ein Wachtelei rutschte ihr vom Löffel und fiel platschend in die Soße zurück.
»Was ist das für ein Benehmen, so hereinzuplatzen. Wo soll er sein? Du solltest es wissen!«, kreischte sie empört.
Colard beachtete sie nicht. Er fixierte Aimée. Noch nie hatte sie ihn so wütend gesehen.
»Ruben hat sich schon vor Sonnenaufgang zur Koralle begeben«, antwortete sie betont ruhig. »Es ist mir nicht gelungen, ihn aufzuhalten. Er wollte mit der Morgenflut aufbrechen.«
»Gott steh uns bei.«
Colard sank auf die Bank am Tisch. Er legte das Gesicht in die Handflächen, atmete nach Fassung ringend zweimal in voller Tiefe ein und schnaubend wieder aus.
»Was geht hier um Gottes willen vor?« Sophia schickte die Magd aus dem Raum. »Wo ist Ruben?«, wiederholte sie Colards Frage. Entweder hatte sie Aimées Antwort nicht verstanden oder sie wollte sie ignorieren, um sie mit Missachtung zu strafen.
»Auf der Koralle . Auf dem Meer. Auf dem Weg nach England«, antwortete Colard ihr grimmig.
»Ruben ist auf dem Schiff?«
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