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Die Stunde des Venezianers

Titel: Die Stunde des Venezianers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cristen Marie
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geschehen? »Aimée, Kind, trockne deine Tränen. Auch ich bin glücklich, dich wiederzusehen.«
    Sie hielten einander umschlungen, ohne dass ein weiteres Wort fiel, bis Jean-Paul schließlich fragte: »Aimée, wir stehen hier immer noch in der Empfangshalle. Willst du mich nicht deiner Familie vorstellen?«
    Aimée löste sich von ihm und ergriff seine Hand. »Komm. Gehen wir in meine Räume. Erst muss ich mit dir reden.«
    Jean-Paul fand das merkwürdig, er folgte ihr jedoch widerspruchslos. Auf dem Weg in die Etage mit den Wohnräumen fand er Zeit, sie näher zu betrachten. Zwar war sie immer noch außerordentlich schön, aber sie war schmaler geworden. Ihrem Gesichtsausdruck fehlte die einstige Unbefangenheit, und sie hatte bei seinem Anblick auch nicht allein vor Freude geweint.
    Die Kammermagd knickste erschrocken, als Aimée, sichtlich erregt, die Tür zu ihrem Wohnraum aufstieß. Sie trat ehrerbietig zur Seite.
    »Kümmere dich darum, dass die Männer meines Onkels gut untergebracht und verpflegt werden, Lison. Mein Onkel selbst wird die Räume meines Mannes bewohnen, solange er bei uns ist.«
    Das Mädchen knickste ein zweites Mal und huschte hinaus. Die Tür war noch nicht ganz geschlossen, als Jean-Paul schon in höchster Besorgnis auf seine Nichte eindrang.
    »Aimée, was ist mir dir los? Bist du unglücklich in deiner Ehe? Hat der Herzog dich etwa zu dieser Heirat gezwungen? Bist du krank?«
    Aimée schüttelte den Kopf. Wo sollte sie beginnen? »Setzen wir uns erst einmal, ehe ich dir mein Herz ausschütte, Onkel. Dein Kommen ist die Antwort auf meine Gebete. Noch nie habe ich dich so dringend gebraucht. Dir kann ich bedingungslos vertrauen, du bist, außer Großmutter, auch der Einzige, der mir einen Rat geben kann. Wie geht es ihr, möchte ich zuallererst wissen.«
    Jean-Paul nahm seine Nichte fest an beiden Händen. »Aimée, ich sehe, dass du Kummer hast, und es schmerzt mich, dass ich ihn mit meiner traurigen Nachricht noch vergrößern muss. Deine Großmutter ist am Tage deiner Hochzeit gestorben. Sie muss gefühlt haben, dass sie ihre Aufgabe erfüllt hat und dass sie in Frieden zu ihrem Herrn gehen kann. Die letzten Wochen waren nicht leicht für sie, und sie hat sich nach Erlösung gesehnt. Ihr Wunsch war, dass du nicht um sie trauerst, sondern dass du ihre Freude darüber teilst, dass sie ihren geliebten Mann endlich wiedersieht.«
    Aimée erstarrte im ersten Moment, aber die tröstlichen Worte Jean-Pauls und die Geborgenheit, die er ihr gab, indem er sie an sich zog und wieder fest in seine Arme schloss, schenkten ihr die Kraft, die Nachricht aufzunehmen.
    »Ich will alles versuchen, ihrem Wunsch nachzukommen, auch wenn es mir schwerfällt.«
    Mit einem tiefen Seufzer machte Aimée sich Luft. Jean-Paul versuchte, ihren Schmerz zu lindern. Er berichtete ihr ausführlich von den letzten Wochen ihrer Großmutter und über Andrieu. Erst als er den Eindruck hatte, dass sie sich einigermaßen gefasst hatte, forderte er sie auf, über ihr Leben in Brügge und ihren persönlichen Kummer zu sprechen.
    Er hörte lange schweigsam zu, als sie, bei den ersten Stunden in Gent beginnend, bis zu den Ereignissen des heutigen Tages Bericht erstattete. Er musste sich zwingen, seine Gefühle zu verbergen, seine Anteilnahme, aber auch seinen Zorn auf den leichtsinnigen jungen Kaufmann, der seiner Nichte den Kopf verdreht hatte, ohne Manns genug zu sein, ihr das Leben zu bieten, das sie verdiente. Und seine Empörung darüber, dass der Herzog sich Aimées für seine Pläne bedient hatte.
    War es Schicksal, dass sie ausgerechnet einem Cornelis ihr Herz geschenkt hatte, war dies überhaupt der richtige Zeitpunkt, sie mit den düsteren Einzelheiten ihrer Familiengeschichte zu belasten? Gleichwohl war ihr mit Schweigen noch viel weniger geholfen. Er musste die Dinge offen beim Namen nennen, damit kein weiteres Unglück geschah.
    »Aimée, ich weiß, du bist stark, und deine Großmutter war immer dein leuchtendes Vorbild. Sie hat in ihrem Leben viel geleistet, aber auch viel gekämpft. Sie hat erkannt, dass in dir dieselbe Kraft schlummert, alle Widrigkeiten des Geschickes zu meistern. Nur deswegen hat sie zugestimmt, dass du nach Dijon an den Hof gegangen bist. Aber ehe du weitere Entscheidungen über dein künftiges Leben triffst, solltest du mir zuhören. Es gibt da etwas, das du über die Familie deines Mannes wissen musst.«
    Aimée drehte den Ring ihrer Großmutter am Finger und suchte im Funkeln des Steines

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