Die Stunde des Venezianers
Trost. Jean-Pauls letzter Satz klang jedoch so beunruhigend, dass sie fragend aufsah.
»Piet Cornelis, der Großvater deines Mannes, ist auch mit uns verwandt. Thomas von Courtenay, der Vater deiner Großmutter, hat Cornelis' älteste Tochter Margarete geheiratet. Ein einziges Kind blieb aus dieser Ehe am Leben: Violante von Courtenay, die die spätere Gemahlin deines Großvaters Mathieu von Andrieu wurde. Deine geliebte Großmutter.«
»Deswegen also hat Großmutter in Brügge gelebt«, rief Aimée verblüfft. »Ich habe mich immer gefragt … Aber nein, sagte sie nicht, sie sei eine Begine gewesen und habe im Beginenhof vom Weingarten gewohnt?«
Sie krauste verwirrt die Nase. Jean-Paul entdeckte gerührt die kleine, eifrige Aimée in ihr, die vor Wissbegierde kaum zu bändigen gewesen war.
»Die Eltern deiner Großmutter kamen bei einer blutigen Familienfehde ums Leben, Kind. Violante gelang die Flucht, aber die Magd, die sie begleitete, brachte sie zu den Beginen statt zu Piet Cornelis. Violante wuchs im Beginenhof auf, ohne zu ahnen, dass ihr Großvater in der gleichen Stadt lebte. Genaueres hat sie mir leider auch nicht verraten.«
»Wie konnte das geschehen?« Aimée vermochte kaum zu atmen.
Jean-Paul griff nach seinem Mantelsack, den er beim Betreten des Raumes auf eine Truhe gelegt hatte. Er öffnete den Verschluss, und Aimée sah zu, wie er ein hölzernes Kästchen aus seiner Stoffumhüllung schälte und auf den Tisch stellte.
»Deine Großmutter hat dir einen ausführlichen Brief geschrieben, der dir diese Fragen bestimmt beantwortet. Es waren ihre letzten Zeilen, denn ihre ganze Sorge galt dir, als sie erfuhr, dass du den Herzog nach Gent begleitet hast. Das Schreiben befindet sich in diesem Kästchen, zusammen mit einem Brief des verstorbenen Piet Cornelis und den Unterlagen über dein Erbe.«
»Welches Erbe?«
»Piet Cornelis hat seinen gesamten Besitz, das Handelshaus, seine Grundstücke und Vermögenswerte deiner Großmutter vermacht. Sie gibt dieses Erbe an dich weiter, denn du bist das älteste ihrer lebenden Enkelkinder und über deinen Vater besonders eng mit ihr verbunden.«
Aimée wurde noch eine Spur blasser. Die Erinnerung an ihren Vater, an die Stunden in der Kapelle von Courtenay, verließ sie nie. Seit damals konnte sie keinen Rosenduft ertragen, auch wenn sie das zu verheimlichen suchte. Nicht einmal ihrer Großmutter hatte sie je gestanden, dass sie seit dieser Zeit gegen tief sitzende Schuldgefühle kämpfte. Sie hatte ihren Vater im Stich gelassen. Er war alleine gestorben. »Mein Vater«, sagte sie leise. »Sie hat ihn so sehr geliebt …«
»Inzwischen weiß ich, warum.« Jean-Paul enthüllte Aimée auch das letzte Geheimnis. »Sie hat es mir auf dem Totenbett gestanden. Der Vater deines Vaters war nicht Mathieu von Andrieu, sondern dessen jüngerer Bruder Simon. Deine Großmutter hat ihn innigst geliebt. Sein Sohn war alles, was ihr von ihm geblieben ist, als er sie verlassen musste.«
»Der Mönch?«
Aimée wusste nur so viel, dass ihr Vater nach dem Bruder Mathieus benannt war und dass dieser in einem Zisterzienserkloster im fernen Poitou begraben lag.
»Er muss ein ganz besonderer Mensch gewesen sein, Aimée.«
Sie nickte gedankenverloren. Es war ihr kaum möglich, all die Einzelheiten so schnell zu verarbeiten und sich eine Meinung zu bilden. Plötzlich erschrak sie.
»Um Himmels willen, wenn das alles stimmt, heißt das, dass Ruben und ich blutsverwandt sind. Ist unsere Ehe ungültig?«
»Gewiss nicht«, beruhigte sie Jean-Paul. »Sogar die Kirche erlaubt inzwischen den Nachfahren gemeinsamer Vorfahren die Heirat, wenn sie nicht enger als im vierten Grad verwandt sind.«
Aimée glaubte ihm, aber die Erleichterung, die sie bei seinem ersten Anblick empfunden hatte, war mittlerweile neuer Verwirrung gewichen. Wenn sie nun wirklich eine Cornelis nach Blut, nach Heirat und nach Gesetz war, wie würden die übrigen Familienmitglieder darauf reagieren? »Was soll ich tun? Was ratet Ihr mir, Onkel?«
»Urteile besonnen und lass dich nicht zu übereilten Entschlüssen verleiten«, sagte er. »Was geschehen ist, liegt mehr als ein Menschenleben zurück. Du könntest auch beschließen, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Du hast einen Mann und lebst doch ein Leben, wie du es dir gewünscht hast. Oder nicht? Was fehlt dir?«
»Freiheit. Liebe, die nicht nur nimmt, sondern auch gibt. Sicherheit für mein Kind«, zählte Aimée auf und fügte hinzu: »Ich werde darüber
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