Die Stunde des Venezianers
nachdenken, Onkel. Es ist alles zu viel auf einmal.«
»Du bestätigst die Meinung deiner Großmutter über dich«, antwortete Jean-Paul zustimmend. »Du warst ein kluges Kind, und du bist eine kluge Frau geworden. Überstürze nichts. Ich bin an deiner Seite, und du kannst dich darauf verlassen, dass ich erst abreise, wenn ich sicher sein kann, dass du meine Hilfe nicht mehr benötigst.«
Aimée atmete tief durch. Sie hörte das Gurgeln des Regens, der aus den Wasserspeiern über dem Zimmerfenster stürzte. Dann erhob sich Jean-Paul.
»Und nun solltest du mich bitte im Haus vorstellen, Aimée. Es ist höchste Zeit dazu, wenn wir nicht ungehörig sein wollen.«
18. Kapitel
B RÜGGE , 4. A UGUST 1369
Colard las den Brief des venezianischen Gewürzhändlers, den Aimée einschließlich der frommen Floskeln übersetzt hatte.
Im Namen Gottes, unseres Herrn Jesus Christus und der Heiligen Jungfrau Maria sowie aller Heiligen im Paradies. Sie mögen uns Glück und Heil gewähren, auf dem Meere und zu Lande.
Handelsabmachungen wurden stets durch derartige Formulierungen bekräftigt. Ob deswegen besonderer Segen auf diesen Geschäften lag, hatte Colard noch nie herausgefunden. Seine Gedanken wandten sich von den Gewürzen ab, dem eigenen Schicksal zu. Wozu saß er überhaupt noch in diesem Kontor? War nicht ohnehin schon alles verloren?
Das Räuspern einer Männerstimme riss ihn aus seiner Lähmung. Wer wagte es, hier einfach einzudringen? Er wandte den Kopf zur offenen Tür.
Aimée stand neben einem sorgfältig gekleideten Mann. Die Familienähnlichkeit in Haltung und Gestik war nicht zu übersehen.
»Ich möchte Euch meinen Onkel vorstellen, Colard, Graf Jean-Paul von Andrieu. Colard de Fine ist Rubens Vetter, Onkel. Er leitet in seiner Abwesenheit das Handelshaus Cornelis.«
Colard erhob sich langsam. Warum hatte Aimée diesen Besuch nicht vorher angekündigt? Hatte sie nach ihrem Verwandten geschickt und ihn um Hilfe gebeten? Er verbarg sein Unbehagen nur mit Mühe.
»Seid willkommen, Seigneur«, grüßte er mit einer knappen Reverenz. »Wäre mir Euer Besuch vorher angekündigt worden, wäre der Empfang angemessener ausgefallen. Verzeiht meine Überraschung.«
»Meine Begrüßung hätte herzlicher nicht sein können«, entgegnete Jean-Paul und schenkte Aimée ein Lächeln. »Ich bin nach Flandern gereist, weil ich meiner Nichte persönlich die betrübliche Nachricht vom Tode ihrer Großmutter überbringen wollte. Ich hatte gehofft, sie inmitten einer liebenden Familie vorzufinden, die sie in ihrem verständlichen Kummer trösten kann.«
Der Vorwurf war nicht zu überhören. In Colard kam Unmut auf.
»Ich teile Euer Bedauern darüber, dass mein Vetter nicht im Hause ist, Euch zu empfangen«, erwiderte er dennoch zurückhaltend. »Aber weder seine Handelsreise noch die Krankheit meiner Tante sind böswilliger Absicht zuzuschreiben.«
»Mir geht es nicht um Respektsbezeugungen«, winkte Jean-Paul ab, »sondern um das Wohlbefinden meiner Nichte, an der ich seit dem Tode meines Bruders und seiner Gemahlin die Vaterstelle vertrete.«
Er wirkte sichtlich erregt. Auch Colard fühlte seine Anspannung wachsen. Was hatte Aimée ihrem Onkel erzählt? Alles? Er sah zu ihr hinüber. Sie lehnte neben der Tür an der Wand, und ihre Züge gaben ihm keinen Hinweis darauf, was sie bewegte.
»Wäre es nicht angebrachter, in die Kaminstube zu gehen, wo wir uns alle setzen können, um dort die Dinge zu besprechen?«, schlug er vor. »Das Kontor, das uns zwingt, zwischen Tür und Angel zu stehen, ist sicher nicht der richtige Platz.«
Jean-Paul wollte nichts davon hören.
»Wie mir scheint, sprechen wir hier ungestörter über das durchaus unerfreuliche Thema, das ich mit Euch zu bereden habe. Ihr führt die Geschäfte des Hauses Cornelis. Wie konntet Ihr zulassen, dass sich Aimées Mann bei Nacht und Nebel in ein solches Abenteuer stürzt? Ich bin entsetzt über die Ereignisse. Besteht eine Möglichkeit, das Schiff aufzuhalten, mit dem Ruben unterwegs ist?«
»Das ist unmöglich«, beantwortete Colard die letzte Frage zuerst. »Ich habe heute früh einen Mann nach Sluis geschickt. Die Koralle ist längst auf offener See. Kapitän Ballard ist ein hervorragender Seemann, ihn holt bei diesem Wetter niemand ein.«
»Ist Euch eigentlich in voller Schärfe bewusst, was Euer Vetter da tut? Er gefährdet sein Land und seinen König, indem er den Feind mit Waffen und Rüstungen versorgt. Man nennt das Hochverrat! Hochverräter
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