Die Stunde des Venezianers
werden nicht einfach hingerichtet. Sie werden der Schwere ihres Verbrechens angemessen bestraft. Das bedeutet Folter und anschließend Aufs-Rad-Flechten. Die Krone zieht die Vermögen ein und schleift die Häuser der Hochverräter. Die rächende Hand des Gesetzes legt sich auf ihre Familien. Ich will nicht, dass meine Nichte mit glühenden Eisen geblendet und im Büßerhemd barfuß aus der Stadt getrieben wird! Könnt Ihr das wenigstens nachvollziehen in Eurer Verblendung?«
Die schonungslose Schilderung ließ Aimée erstarren.
»Noch ist es nicht so weit.«
»Ach ja? Und was ist, wenn es so weit ist, wenn er gefasst wird? Wenn das Handelsschiff von den Franzosen aufgebracht und kontrolliert wird? Täglich verlassen neue Schiffe die Bootswerkstätten in der Normandie. Das Meer gehört nicht allein den Engländern.«
Colard wischte sich den Schweiß von der Stirn. Seit wann war es im Kontor so warm?
»Ruben hat die Koralle Kapitän Ballard überschrieben. Sie ist sein Schiff, und er trägt damit die Verantwortung für ihre Fracht. Im schlimmsten Fall ist Ruben nur ein Reisender, der mit den Mönchen in der Mündung des Humber über einen Wollvertrag verhandeln will. Niemand kann ihm Hochverrat wirklich nachweisen. Ballard hingegen kennt man in den einschlägigen Hafenschenken von Brügge und Sluis. Er träumt von vergangenen Zeiten, von großen Handelsreisen und gefährlichen Abenteuern. Ihn wird man verdächtigen, dass ihn seine Unzufriedenheit zum Waffenschmuggel getrieben habe.«
»Und Euren Vetter wird man bezichtigen, sein Helfershelfer zu sein.«
»Wem wird man glauben? Einem Handelsmann, den der Herzog von Burgund mit seiner Gunst geehrt hat oder einem doppelzüngigen Kapitän, der nie einen Hehl aus seiner Verdrossenheit gemacht hat? Verlasst Euch auf Rubens Fähigkeit, sich herauszuhalten. Auf diesem Gebiet ist er unschlagbar.«
»Da wir keine Möglichkeit haben, Ruben aufzuhalten, müssen wir auf Gott vertrauen und erst einmal abwarten«, erkannte Aimée realistisch.
»Das Beste wäre, ich würde dich mit nach Andrieu nehmen, bis wir Klarheit haben, wie dieses gefährliche Unternehmen ausgegangen ist«, erwiderte ihr Onkel wütend. »Es gefällt mir nicht, tatenlos abzuwarten.«
»Brügge verlassen? Niemals!«
Der vehemente Einspruch überraschte sowohl Jean-Paul wie Colard.
»Dieses Haus ist jetzt mein Zuhause«, fuhr sie temperamentvoll fort. »Meine Großmutter wollte, dass ich das Erbe des Hauses Cornelis antrete. Das werde ich tun.«
»Das Erbe des Hauses Cornelis?«, wiederholte Colard staunend. »Ihr wisst nicht, was Ihr sagt! Das Handelshaus gehört allein meinem Vetter. Ihr besitzt lediglich die Rechte der Hausfrau.«
»Die Familie wird gut daran tun, die Anweisungen Aimées zu befolgen und sie in jeder Hinsicht zu unterstützen«, schnitt Jean-Paul ihm ungehalten das Wort ab. »Ihre verstorbene Großmutter war Piet Cornelis' ältestes Enkelkind. Die Tochter seiner Tochter Margarete und des burgundischen Ritters Thomas von Courtenay. Piet Cornelis hat Aimées Großmutter zur alleinigen Erbin bestimmt, und diese hat das Erbe an ihre Enkelin weitergereicht.«
Colards Züge erstarrten in fassungslosem Unglauben. »Das kann ich nicht glauben. Habt Ihr Beweise für diese ungeheuerliche Behauptung?«
»Jeder Zweifel ist ausgeschlossen. Aimée besitzt die entsprechenden Dokumente und den Siegelring des verstorbenen Handelsherrn. Nur durch die Heirat mit ihr hat Ruben die Nachfolge von Piet Cornelis angetreten. Hätte meine Nichte diese Heirat nicht vollzogen, wäre Ruben rechtlos.«
Während dieser Ausführungen starrte Colard Aimée unverwandt an. Wenn Aimées Onkel die Wahrheit sagte, so fiel es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen –, dann war das Mädchen mit der Lilie, das Bild seiner geheimnisvollen Vertrauten, Piet Cornelis' Tochter. Aimées Urgroßmutter.
»Ihr vergesst Rubens Mutter«, wandte er dennoch ein. »Sie ist Piet Cornelis' Tochter.«
»Die jüngere Tochter«, verbesserte Jean-Paul gelassen. »Piet Cornelis hat den Nachkommen seiner ältesten Tochter das Erbe hinterlassen. Die direkte Linie endet bei Aimée.«
Arme Sophia. Das würde ein böses Erwachen für sie bedeuten. Die Nachricht würde sie vernichten. Colard suchte Aimées Blick.
»Habt Ihr von dieser Verwandtschaft gewusst?«
»Nein, ich habe es erst jetzt erfahren und das Erbe meiner Großmutter aus den Händen meines Onkels empfangen. Aber es ändert sich ohnehin nichts für uns alle. Mein Erbe ist
Weitere Kostenlose Bücher