Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Stunde des Venezianers

Titel: Die Stunde des Venezianers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cristen Marie
Vom Netzwerk:
getrieben.« Colard stieß wütend die kleine Seitenpforte auf und wartete draußen, bis Joris hinter ihm die Laterne gelöscht und die Tür versperrt hatte. Regen prasselte ihm auf die Schultern.
    »Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir jemals so abscheuliches Wetter mitten im August hatten«, knurrte er und zog die Krempe seines Hutes tiefer in die Stirn. »In der Tuchhalle wird erzählt, dass König Edwards Gemahlin Philippa in London im Sterben liegt. Was meinst du, wird ihr Tod den Krieg endlich beenden?«
    »Im Gegenteil. Er wird die Fronten verhärten.« Joris tat den Lagerschlüssel wieder an den Eisenring, den er an seinem Gürtel trug. »Wenn der besänftigende Einfluss der englischen Königin wegfällt, ist eine weitere Stimme der Vernunft verstummt. Apropos Vernunft, wie hat Frau Sophia Rubens Abenteuer aufgenommen?«
    »Hysterisch. Aber sie wird sich wieder beruhigen. Aimée kümmert sich um sie.«
    Colard stapfte die aufgeweichte Gasse entlang und wäre fast über ein Schwein gestolpert, das unbeeindruckt vom Regen im Abfall wühlte. Nur rund um die Burg waren die Straßen von Brügge gepflastert, die übrigen Wege und Gassen versanken seit Beginn des Unwetters im Morast. Es fehlte nicht mehr viel, bis die Kanäle über die Ufer traten. Joris bemühte sich, Schritt zu halten. Er war völlig außer Atem, als Colard unerwartet stehen blieb und einen Entschluss verkündete.
    »Morgen werde ich Jacob van Oost einen Besuch abstatten. Er hat schon vor geraumer Zeit angedeutet, dass er uns das alte Speicherhaus in Damme abkaufen möchte. Es steht leer, wir haben kein Geld, Getreide zu kaufen und zu lagern. Wenn er uns einen guten Preis macht, soll er es haben.«
    »Ausgerechnet jetzt?« Joris deutete zum Himmel. »Ist dir entgangen, dass dieses Wetter schon seit Tagen anhält? Das Korn an den Halmen verfault, wenn das so weitergeht. Die Getreidepreise werden steigen, und der Lagerplatz für zusätzliche Lieferungen ist knapp. Wir brauchen das Speicherhaus.«
    »Wir brauchen auch Bargeld. Der Venezianer will fünfzehn Prozent Zinsen für das Darlehen, das er Ruben gegeben hat, und Salomon sitzt uns ohnehin im Nacken. Das Speicherhaus können wir noch am ehesten entbehren. Mit dem Erlös kommen wir über die Runden, bis wir wissen, ob Rubens gefährliches Unternehmen von Erfolg gekrönt ist.«
    »Und wenn nicht?«
    »Das möchte ich mir jetzt noch nicht ausmalen, Alter.« Nie hatte Colard die Last der Verantwortung für das Haus Cornelis so sehr gedrückt. Das Wasser rann ihm von der Hutkrempe in den Hals.
    Würde die Koralle unversehrt heimkehren? Er machte sich selber Mut. Er vertraute Kapitän Ballards seemännischen Fähigkeiten, auch wenn er ein Schlitzohr war.
    Ruben schickte seine Erklärung mit Verspätung – durch einen barfüßigen Botenjungen:
    Sobald wir unsere Geschäfte in England erledigt haben, werden wir nach Portugal segeln, um unseren Gewinn in feinstem Olivenöl und getrockneten Trauben anzulegen. Du wirst mir nicht mehr zürnen, wenn wir mit vollen Laderäumen in Brügge anlegen.
    Colard schüttelte fassungslos den Kopf. Ruben war einfach immer noch ein Kind. Er war nicht fähig, eine Sache realistisch zu durchdenken. Jede verrückte Idee setzte er in die Tat um. Sobald man ihn aus den Augen verlor, geschah ein Unglück.
    Es würde Wochen dauern, bis er wieder in Brügge eintraf. Wochen, in denen sie entweder bankrott oder als Waffenschmuggler entlarvt worden waren, während Ruben, weit ab von jeder Verantwortung, seinem Hang zum Abenteuer frönte.
    Wie konnte eine Frau wie Aimée, bei ihrem Sachverstand und der Souveränität im Umgang mit Tante Sophia, einen derartigen Leichtfuß lieben?
    Das kann nicht gutgehen, dachte Joris.

17. Kapitel
    B RÜGGE , 4. A UGUST 1369
    Aimée verfehlte die vorletzte Stufe und flog Jean-Paul in die Arme. Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Ein vertrautes Gesicht!
    »Der Himmel muss dich geschickt haben, Onkel!«
    Am liebsten hätte sie sich nicht mehr aus seinen Armen gelöst. Tränen der Wiedersehensfreude rannen ihr über die Wangen, ohne dass es ihr zu Bewusstsein kam. Was sie in den letzten Stunden erlebt hatte, war zu viel gewesen. Ruben fort. Der Zusammenbruch seiner Mutter. Die Bedrohung durch den Waffenschmuggel. Der verzweifelte Colard. Die unverhofft entdeckte Schwangerschaft.
    Der tränenreiche Gefühlsausbruch verwirrte Jean-Paul. So kannte er Aimée nicht. Er hatte sie als fröhliches junges Mädchen in Erinnerung. Was war mit ihr

Weitere Kostenlose Bücher