Die Stunde des Venezianers
am Tage unserer Hochzeit auf Ruben übergegangen. Jetzt, wo er auf Reisen ist, werde ich ihn vertreten müssen, und dies kann ich nur mit Eurer Hilfe«, fügte sie versöhnlich hinzu. »Und nun sollten wir wirklich in die Kaminstube gehen. Ich glaube, wir haben uns alle etwas zu essen verdient.«
Jean-Paul nickte nach einem kurzen Blickwechsel mit Aimée. Ihm war klar, dass Widerspruch sinnlos gewesen wäre, so bestimmt hielt sie seinem Blick stand.
»Wenn es dein Wunsch ist. Ich erwarte jedoch, dass dich Herr de Fine in deinen Entscheidungen unterstützt und dafür Sorge trägt, dass seine Tante sich ebenfalls danach richtet. Herr de Fine, Ihr mögt das Geschäft weiter nach außen vertreten, denn es ist mir bewusst, dass eine Frau in der Gilde und in der Stadt nicht im gewünschten Umfang akzeptiert wird. Ihr tut Eure Arbeit indes in genauer Abstimmung mit Aimée. Künftig geschieht nichts ohne ihr Wissen und Einverständnis. Es ist für mich ein großes Risiko, dem Herzog von Burgund, dem ich Treue geschworen habe, nichts von diesem unsäglichen Unternehmen Eures Vetters mitzuteilen. Ich nehme es auf mich, um meine Nichte zu schützen. Sollten mir weitere geschäftliche Unregelmäßigkeiten zu Ohren kommen, werde ich mit aller Härte dagegen einschreiten. Mein Einfluss ist groß, und meine Beobachter sind zuverlässig.«
Colard nickte bedächtig, obwohl er keine Ahnung hatte, wie er seiner Tante diese Neuigkeiten beibringen sollte. Sophia betete ihren verstorbenen Vater, Piet Cornelis, wie einen Heiligen an.
Wenn sie jetzt erfuhr, dass er noch zu Lebzeiten sein Erbe an die Nachkommen der erstgeborenen Tochter vergeben hatte, würde eine Welt für sie zusammenbrechen. Aber nahm sie seit Rubens Abreise die Welt überhaupt noch wahr?
»Ihr habt mein Wort, Seigneur«, sagte er und hielt Jean-Pauls Blick stand.
»Ihr seid ein aufrechter Mann, de Fine. Meine Nichte hat kein schlechtes Wort über Euch gesagt. Ich vertraue Euch, dass Ihr zukünftig stark genug seid, mit ihr die richtigen Entscheidungen zu treffen.«
Colard sah zu Aimée, ehe er sich vor ihrem Onkel verneigte.
»Ich danke für Euer Vertrauen. Entschuldigt mich. Ehe ich zum Essen erscheine, muss ich die staubigen Kleider wechseln. Ich habe diesen Tag zum großen Teil damit verbracht, leere Lagerhallen zu durchsuchen.«
In seiner Kammer legte er sorgsam den Riegel vor, ehe er das Bild aus der Truhe holte. Die Dame mit der Lilie lächelte. Er empfand ein Gefühl der Wärme beim Anblick des Bildes und der Ähnlichkeit.
»Aimée, du hast kein schlechtes Wort über mich gesagt. Wie soll ich das verstehen?«
19. Kapitel
B RÜGGE , 5. A UGUST 1369
Das Haus hatte sich zur Ruhe begeben.
Die Stille in ihrem Schlafgemach war so intensiv, dass Aimée den eigenen Herzschlag zu hören glaubte. Sogar das allgegenwärtige Rauschen und Gurgeln des Regens hatte nachgelassen. Ab und zu knisterte eine Kerze im Leuchter, oder hinter der geschnitzten Wandverkleidung raschelte eine Maus. Ihre Augen brannten, so lange starrte sie schon auf das verschlossene Holzkästchen.
Das Erbe ihrer Großmutter. Sie verspürte rätselhafte Scheu davor, das Kästchen zu öffnen. Warum nur.
Sie nannte sich selbst einen Hasenfuß und hob entschlossen den Deckel. Sie hörte förmlich die Stimme ihrer Großmutter: Ein Problem löst du nicht, indem du es vor dir herschiebst. Der heilige Franz von Assisi hat gesagt: Tue erst das Notwendige, dann das Mögliche, und plötzlich schaffst du das Unmögliche.
Auf den ersten Blick sah sie gebundene Bücher, die sie aufgrund ihrer Erfahrungen im Kontor sofort als Kontobücher erkannte. Briefe. Einen Ring. Ein in Leinen gehüllter Gegenstand lag obenauf. Nach ihm griff Aimée zuerst.
Das beträchtliche Gewicht erstaunte sie. Doch schon während sie ihn freilegte, ahnte sie, was es sein könnte. Die heilige Anna. Die kleine Statue aus Sandstein. Solange sie denken konnte, hatte sie in der Schlafkammer ihrer Großmutter auf einem kleinen Altar gestanden. Mathieu hatte sie ihr geschenkt. Wenn ich nicht mehr bin, soll sie dir gehören, hatte sie einmal gesagt.
Aimée presste die Figur wie eine Puppe an ihr Herz. Sie war glatt. Von den unzähligen Berührungen ihrer Großmutter poliert. Den Stein zu fühlen erinnerte an das Streicheln ihrer Hand. Das freundliche Lächeln auf dem runden Steingesicht der Heiligen gab ihr Mut, die Briefe zu öffnen.
Als ersten wählte sie den, dessen Schrift ihr fremd war.
Tochter meiner Tochter …
Piet
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