Die Stunde des Venezianers
Cornelis! Sie hielt einen Brief des Mannes in den Händen, der dieses Haus erbaut hatte. Rubens Großvater und ihr … Die verwandtschaftlichen Beziehungen zu entwirren verschob sie auf später. Erst wollte sie wissen, was er seiner ältesten Enkelin geschrieben hatte.
… ich versichere dir, dass ich keine Ahnung hatte, dass du meine Enkelin bist. An dir und den Beginen habe ich mich schwer versündigt und bin sogar zum Mörder geworden.
Aimée entsetzte dieses Bekenntnis. Was hatte ihn zu seinem Verbrechen getrieben?
Sie faltete das Blatt wieder an den vorhandenen Knickstellen und griff zum Brief ihrer Großmutter.
Geliebte Enkeltochter, begann er.
Da ist so viel, was ich dir sagen muss. Ich habe es nie getan, weil ich vergessen wollte, doch es ist falsch zu schweigen. Wie du weißt, war ich Begine im Hof des Weingartens von Brügge. Zu dieser Zeit erregte ich die Aufmerksamkeit eines Kaufmannes, der mir die Ehe antrug. Meine Ablehnung ließ er nicht gelten. Er versuchte, sein Ziel mit Gewalt zu erreichen. Einer seiner Helfershelfer legte Feuer im Wolllager der Beginen, und im Aufruhr der Löscharbeiten wurde ich entführt. Meine Pflegemutter Berthe kam bei diesem Brand ums Leben, und während die Beginen noch meinen vermeintlichen Tod betrauerten, tat er mir Gewalt an. Heute weiß ich, dass es aus Verblendung geschah. Er hielt meine Ähnlichkeit mit seiner verstorbenen Tochter für ein Wunder, für mich war sie ein Fluch. Ein Fluch, von dem ich heute weiß, dass er dennoch etwas Gutes für mich bewirkte. Ich lernte Simon Andrieu und seinen Bruder Mathieu kennen. Mathieu rettete mich vor meinem Großvater. Er sorgte für mich, tröstete und bestärkte mich. Er hatte sogar die unendliche Güte, mir meine innige, aber verbotene Liebe zu seinem Bruder zu verzeihen, und nahm Simon, dem ich den Namen seines Vaters Simon gegeben habe, in unserer Ehe als seinen Sohn an. Ich wünsche, dass du das alles weißt, und hoffe von Herzen, dass auch du eines Tages einen Mann findest, der all das für dich ist, was Mathieu für mich war. Ich sehne mich, während ich das schreibe, unendlich danach, wieder mit ihm vereint zu sein.
Aimée blickte kurz auf.
Hatte sie in Ruben diesen Mann gefunden? War er alles für sie? Sorgte er für sie? Tröstete und stärkte er sie? Liebte er sie? Mit einem Seufzer las sie weiter.
Das Schicksal hat dich, geliebte Aimée, nach Flandern geführt. In meiner Sorge um dein Wohl bitte ich dich, überlege gut, wie du dein Leben gestaltest. Wenn es jedoch eine Stimme in deinem Herzen gibt, die dich nach Brügge zieht, wenn du dich auf diesem flachen Land, unter seinen jagenden Wolken, mit dem allgegenwärtigen Duft nach Salz und Meer zu Hause fühlst, dann hast du dort ein verbrieftes Recht auf ein Zuhause. Ich lege es in deine Hände. Ich habe versucht, dich zu einer denkenden, selbstbewussten Frau zu erziehen, und ich vertraue darauf dass du das Richtige tust.
Was ist das Richtige?
Weine nicht um mich. Gott schütze dich und schenke dir ein glückliches Leben, geliebtes Kind. Deine Großmutter, Violante von Andrieu.
Eine Federspur hinter der Unterschrift sah aus, als wäre ihr das Schreibgerät aus den Fingern geglitten. Tränen fielen auf das Papier. Aimée bemerkte es nicht.
Ein verbrieftes Recht auf dieses Zuhause.
Sie legte die Blätter zur Seite und trat ans Fenster. Die Hände aufgestützt, atmete sie tief durch. Sie spürte bewusst das Holz unter den Händen. Es kam ihr vor, als nähme sie Verbindung mit dem Haus auf.
Vom Belfried kündete die Glocke Mitternacht. Ein neuer Tag begann.
Was würde Ruben sagen?
Sie hatte den Satz noch nicht zu Ende gedacht, als sie schon wusste, dass sie ihm den Brief ihrer Großmutter nie zeigen würde. Es hatte keinen Sinn, Schicksale und Beweggründe von Menschen offenzulegen, die nicht mehr lebten. Wem nutzte solches Wissen? Im Gegenteil, es richtete nur Schaden an.
Aimée wandte sich um. Dieser Brief durfte niemals in falsche Hände geraten. Ehe sie ihren eigenen Entschluss bereuen konnte, trat sie an den Tisch, ergriff ihn und hielt ihn an die nächste brennende Kerze. Sie wusste, es war im Sinne ihrer Großmutter.
Es ist auch für dich, sagte sie dem wachsenden Leben in ihrem Schoß. Niemand soll es je wagen, die Ehrbarkeit deiner Familie in Zweifel zu ziehen.
Blieben der Siegelring und die Kontobücher. Die Bücher konnten warten. Der breite Reif passte genau auf ihren rechten Daumen. Er ließ sie das ganze Gewicht des Goldes spüren. Er
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