Die Stunde des Wolfs
Schirm etwas schief über dem rechten Auge trug. Eine gute Schweizer Uhr mit Lederarmband, das war's.
Nachdem er den ganzen Horizont abgesucht hatte, kam Ratter von der Nock herein und sagte, »Morgen, Herr Kaptän.«
»Johannes.«
Ratter war ein Mann in den Dreißigern, mit einem schmalen, gut aussehenden, ernsten Gesicht und dunklem Haar. Vor drei Jahren hatte er bei einer Weizenstaub-Explosion auf der Altmaar, einem der Schwesterschiffe der Noordendam, ein Auge verloren. Im Krankenhaus in Rangun hatten sie kein Glasauge für ihn gehabt, und so trug er seitdem eine schwarze Augenklappe an einem schwarzen Riemen. Er war ein guter Offizier, intelligent und gewissenhaft, der schon lange sein Kapitänspatent besaß und längst sein eigenes Schiff gefahren wäre, hätten ihm nicht die finanziellen Engpässe der Dreißigerjahre einen Strich durch die Rechnung gemacht.
»Gottesdienst um neun?«, fragte er.
»Ja«, sagte De Haan. Es war Sonntagmorgen, und eine unantastbare Schifffahrtstradition verlangte, dass er einen Gottesdienst abhielt, gefolgt von einem Inspektionsrundgang des Kapitäns. Letzteres machte ihm, auch wenn er sämtliche Tricks durchschaute, nicht so viel aus, doch Ersteres war eine Last. »Verbindlich diesmal«, fügte De Haan hinzu. »Das heißt, für jeden. Sie haben die Brücke, und Sie können den Steuermann dabehalten. Kovacz übernimmt den Maschinenraum« – Kovacz, ein Pole, war sein Obermaschinist – »und alle anderen will ich auf dem Vorderdeck sehen.«
»In Ordnung«, sagte Ratter. »Komplette Besatzung.«
De Haan drehte sich zum Steuermann um. »Einen Strich nach Steuerbord gehen und halbe Kraft.«
»Ja, Herr Kaptän. Strich nach Steuerbord, halbe Kraft.« Er drehte das Ruder – glänzendes Teakholz, ein elegantes Relikt aus dem Ostindienhandel – und schob den Hebel am Maschinentelegrafen auf halbe Kraft voraus. Zwei Klingelzeichen aus dem Maschinenraum, mit denen die Anweisung bestätigt wurde.
»Ich werde eine Ansprache halten müssen«, sagte De Haan, offenbar nicht glücklich über die Aussicht.
Ratter sah ihn an. Das hatte es noch nie gegeben.
»Wir werden nicht für Phosphat nach Safi auslaufen.«
»Nicht?«
»Es geht nach Rio de Oro«, sagte De Haan und benutzte damit den offiziellen Namen des sandigen Küstenstreifens, der allgemein als Spanische Sahara bezeichnet wurde. »Wo wir vor der Villa Cisneros vor Anker gehen – und ich will nicht lange vor Einbruch der Dunkelheit dort sein, also sparen Sie Treibstoff.« Er schwieg einen Moment und fügte hinzu: »Wir wechseln die Identität, kann nicht schaden, wenn du es jetzt schon erfährst.«
Ratter nickte. Meinetwegen, was immer du sagst. »Landurlaub für die Besatzung?«
»Nein, die bleibt an Bord. Sie waren alle in Tanger an Land, es wird sie also nicht allzu hart ankommen.«
»Nein, denke ich auch, selbst wenn sie murren, es ist immerhin Mauretanien oder wie die Spanier das nennen mögen, und du weißt, was sie darüber denken.«
De Haan wusste es. Altem Seemannsgarn zufolge waren in den entlegenen Häfen des nordwestlichen Afrika Matrosen verschwunden. Entführt – glaubte man diesen Geschichten – und in den Dörfern mitten in der Wüste an gestufte Holzräder gekettet, Tretmühlen, wo sie sich beim Wasserpumpen aus den tiefen Brunnen zu Tode schufteten.
»Bleiben immer noch die hiesigen Bumboote«, sagte De Haan. »Die Mannschaft wird sich damit begnügen müssen. Und verbreite die Nachricht, dass wir eine lange Kreuzfahrt vor uns haben, wenn sie also irgendetwas brauchen …«
Der Messejunge kam den Niedergang hochgetrampelt – aus Metall, zu steil für eine Treppe, aber auch nicht ganz eine Leiter –, der zur Brücke führte. Er hörte auf den Namen Cornelius und glaubte, fünfzehn zu sein. Falls es stimmte, war er für sein Alter klein, blass und dürr. Er war, wie er sagte, auf der Insel Texel aufgewachsen und schon im zarten Alter von neun Jahren auf den Heringsbooten mit hinausgefahren. Und seine Entscheidung, von zu Hause wegzulaufen und zur See zu gehen, hatte, so versicherte Cornelius, sein Leben entschieden zum Besseren gewendet.
»Frühstück, Herr Kaptän«, sagte er und hielt ihm ein Tablett entgegen.
»Oh, dank dir, Cornelius«, sagte De Haan. Ratter musste sich abwenden, um nicht loszulachen. De Haans Frühstück bestand aus einem großen Henkelbecher Kaffee und einer Scheibe mehligem Graubrot, das dick mit Margarine beschmiert war und am Rand den tiefen Abdruck eines kleinen
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