Die Stunde des Wolfs
Trampdampfer stets ein starkes Argument.
»Schon mal hier gewesen?«, fragte De Haan den Matrosen, der das Beiboot steuerte. Sowie der Abend hereinbrach, kühlte die Luft über der Wüste ab. De Haan zog die schaffellgefütterte Lederjacke enger und hielt sie vorn zu.
»Nicht, dass ich wüsste, Herr Kaptän.«
»Wirkt ziemlich ruhig«, bemerkte der andere Matrose.
Rückständig trifft es wohl eher oder vielmehr: gottverlassen. Doch in der Gegenwart von Offizieren neigten Seeleute zur Diplomatie. Einem von De Haans Jahrbüchern zufolge zählte die Stadt eintausend Seelen. Nun ja, vielleicht gab es die tatsächlich, vielleicht versteckten sie sich in dem Labyrinth aus weiß getünchten Mauern und Schatten, doch von hier draußen, außerhalb des Piers, wirkte der Ort verlassen. Nicht viel zu bieten, dieses Rio de Oro, egal wovon. Vierhundert Küstenmeilen Sand und niedrige Hügel und reichlich Salz, das sie manchmal exportierten – ein letztes Fitzelchen vom spanischen Imperium. Doch ein neutrales Fitzelchen, das machte es so nützlich.
Sie vertäuten das Boot an einem Poller, und als De Haan vom Pier die Steintreppe zur Straße hinaufging, blies ihm ein Wüstenwind mit dem Geruch nach uraltem Staub ins Gesicht. Acht Monate zuvor hatte er auf einer Straße in Liverpool denselben Geruch in der Nase gehabt, hatte darüber gerätselt, bis er begriff, dass er von den Fundamenten alter Gebäude aufstieg, die neuerlich von den Bomben der deutschen Luftwaffe ausgegraben und in die Luft gesprengt worden waren. Das Grand Hotel Cisneros – Leiden hatte ihm den Weg beschrieben – war einen Steinwurf entfernt. Wie sich zeigte, war es drei Stockwerke hoch und zwei Fenster breit, ein stuckverziertes Haus, das zur Jahrhundertwende einmal weiß gewesen war. Das Foyer wirkte geräumig – eine hohe Decke mit Ventilator, schwarz-weiß gefliester Boden, tote Palme in gelbem Übertopf. Der Angestellte, ein älterer Spanier mit Maulwurfsgesicht und Eckenkragen, starrte ihm hoffnungsvoll entgegen, als er das Hotel betrat. In einer Ecke saß Wilhelm in Barbour-Feldjacke und Whipcord-Hose und las in einem Buch.
Er begrüßte sie, und seine Worte hallten durch das leere Foyer. Von Wilhelm kam nur ein schiefes Grinsen – offensichtlich konnten sie hier nicht reden. Sie erhob sich und sagte: »Mein Wagen steht gleich hinter dem Haus.«
Es gab nicht viel, worauf De Haan neidisch gewesen wäre, doch er beneidete Wilhelm um ihren Wagen. Er parkte auf einem kleinen Platz hinter dem Hotel, zwischen einem 1920er Möbelwagen und einer Renault-Limousine sowie einer Herde Schafe und einem Hirten mit Schnauzbart, Schaffellweste, Hut und einem schräg über den Rücken gehängten Gewehr. Wilhelm gab ihm ein paar Dirhems, die er wegsteckte, während er zum Zeichen seines Dankes nickte.
»Der ist phantastisch«, sagte De Haan. Ein flaches Sport-Cabriolet, von Wind und Sand zu den unterschiedlichsten Nuancen von staubfarben verwittert – bei näherem Hinsehen vermutlich grün, mit einer winzigen Windschutzscheibe, einem Lederriemen über der Motorhaube, stieläugigen Scheinwerfern und dem Lenkrad auf der rechten Seite. In britischen Filmen sprang der Held einfach über die Tür, doch De Haan entschied sich für den traditionellen Zugang, schlängelte sich hinein und machte es sich auf dem Ledersitz bequem.
»Ja«, sagte Wilhelm, »im Großenganzen ja.« Der Hirte guckte bedenklich, als Wilhelm den Anlasser betätigte, dem Motor aber nur ein kurzes Stottern entlockte. »Komm schon«, sagte sie. Beim vierten Anlauf kam ein ungehaltenes Schnauben, beim fünften dann eine Kette von Explosionen – und volle Kraft voraus. Der Hirte brach in ein breites Grinsen aus, und Wilhelm lachte und winkte ihm zu, als sie die Straße hinunterzupoltern begannen.
»Was ist das?«, fragte De Haan.
»Was?«
»Was ist das für ein Wagen?«
»Ach so, ein Morgan. Und noch irgendwas dahinter, glaube ich, Buchstaben oder Zahlen oder so.«
Sie hatten fast augenblicklich die Stadt hinter sich und fuhren auf einer unbefestigten Straße weiter. An einem Feld mit frischen grünen Trieben und einem Ochsen mit verbundenen Augen vorbei, der, an eine Holzstange angeschirrt, im Kreis um einen steinernen Brunnen lief.
»Hat mal einem Freund von mir gehört«, sagte Wilhelm. »Einem Amerikaner. Er erzählte gerne, dass er zu Hause in den Staaten sämtliche Morgans sein Eigen nannte – das Pferd, den Wagen und das Mädchen.«
Der Weg wurde schmaler, und es war schon
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