Die Stunde des Wolfs
Daumens trug.
De Haan kaute an dem Brot herum und schlürfte seinen Kaffee in kleinen Schlucken, während er auf die tief hängende Wolkendecke am Horizont hinausblickte. Gleich würde er in seine Kajüte zurückgehen, in einem gehefteten Büchlein, das die Sonntage des Jahres verzeichnete und von der Hyperion-Lijn gestellt wurde, den Gottesdienst durchlesen – und sich ein paar Notizen machen, was er der versammelten Mannschaft sagen würde. Für den Augenblick jedoch, bei Brot und Kaffee, Ratters schweigender Präsenz und schönem Wetter, war es eine Freude, nichts zu tun. Die Brücke war der Ort auf dem Schiff – oder überhaupt auf der Welt –, wo er sich richtig zu Hause fühlte. Ein heiliger Ort, an dem nicht gelärmt werden durfte. Nur das Ruder, der Maschinentelegraf, das Messingsprachrohr für den Maschinenraum nebst einer Blechpfeife an einer Kette um den Hals, das Kompasshaus, ebenfalls aus Messing – ein taillenhohes Gestell, Signalflaggen in Holzfächern, die zum Backbordschott hochreichten, und in einem Bogen angeordnete, quadratische Fenster in Mahagonirahmen. Zugänglich war die Brücke durch Luken, die zu den Nocken führten, und einen Niedergang zum Deck darunter – zum Kartenraum, den Quartieren des Kapitäns und der Offiziere sowie der Offiziersmesse.
De Haan nahm sich die Zeit für den halben Becher Kaffee, bevor er sagte: »Also, ich denke, ich muss mich an die Arbeit machen. Einfach hübsch langsam immer auf Südsüdwest, einundneunzig Grad, und bleib sechs vor der Küste.« Der Ausdruck bedeutete, hinter der Fünf-Meilen-Zone, in internationalen Gewässern. »In den nächsten Stunden fahren wir westlich von Marokko, aber praktisch gesehen ist das Vichy-Frankreich.«
De Haan nahm einen letzten Schluck Kaffee, dann noch einen, doch er kam nicht los. »Du sollst nur wissen«, sagte er, »dass wir jetzt wirklich mittendrin sind, und ich habe uns in diese Situation gebracht. Vielleicht musste früher oder später so etwas passieren, aber nun wird es früher sein, und irgendwen wird's erwischen.«
Ratter zuckte die Achseln. »So ist das eben im Krieg, Eric, man entkommt ihm nicht.« Er schwieg einige Zeit, in der nur das ferne Stampfen des Motors zu hören war. »Na jedenfalls, worum es auch geht«, sagte er, »wir kommen schon durch.«
Der Wind blies heftig übers Vorderdeck, die Wellen teilten sich am Bug, die Sonne brach immer wieder durch die unruhigen Wolken. Die Mannschaft war mit entblößten Köpfen, die Mützen mit beiden Händen gefasst, in Reih und Glied zum Gottesdienst angetreten. Kees, der Zweite Offizier der Noordendam, ein stoischer, pfeiferauchender Prototyp in der Handelsmarine, zählte die Köpfe, zählte erneut und entfernte sich, um ein paar eingefleischte Atheisten, die sich in die Mannschaftsräume verzogen hatten, heraufzuholen.
Gottesdienst hatte unverbindlich und ökumenisch zu sein, so dass er für Laskaren – wie für Malaien-Crews aus Ostindien, für Muslime – zum Beispiel Mr. Ali, wie alle dachten, obwohl er in Wahrheit koptischer Christ war – wie für Katholiken und für jedermann taugte; ein paar schlichte Worte an einen verständnisvollen, allumfassenden Gott gerichtet, mehr nicht. Doch De Haan wusste, dass die Gottesdienste vom Familienpastor der Terhovens verfasst worden waren, einem holländischen reformierten Geistlichen in Rotterdam mit einer ausgeprägten Vorliebe für protestantische Düsternis. Und so basierte die Lesung für diesen Tag auf einem Luther-Wort: »Jeder glaubt für sich allein, jeder stirbt für sich allein.« Wenn man daran dachte, welche Ansprache De Haan nach dem Gottesdienst zu halten hatte, konnte man sich keine schlimmere Wahl denken, doch dies war nicht der Moment zum Improvisieren.
Der Glaube war das Entscheidende, hieß es in der Auslegung, man musste den Wegen des Herrn vertrauen, man musste barmherzig sein, seinem Glauben durch Mildtätigkeit gegenüber seinen Mitmenschen Ausdruck verleihen. Es folgte eine Lesung der Psalmen 93 und 96 und anschließend eine Rezitation aus dem Hauptwerk des Herrn Pfarrers, Das Gebet des Matrosen – einem stürmischen Opus über nächtliche Fahrt, bei dem wenigstens ein paar der Männer zusammenzuckten. Das Wort ›Sturm‹ nahm man auf See nicht in den Mund, damit für den Fall, dass einer in der Nähe war, dieser sich nicht angesprochen fühlte und mal sehen wollte, wer nach ihm rief. Nach einer Minute stillen Gebets, zu dem die meisten der Männer die Köpfe senkten, war
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