Die Stunde des Wolfs
der Gottesdienst vorbei.
»Männer, bevor ihr zur Kapitänsinspektion entlassen seid, habe ich euch etwas mitzuteilen.« De Haan räusperte sich, konsultierte seine Notizen und hielt sie dann hinter seinen Rücken. »Wir alle wissen, dass sich die halbe Welt im Krieg befindet, dass wir uns einem mächtigen, entschlossenen Feind gegenübersehen. In den kommenden Wochen wird sich die Noordendam mit ihrer Crew an diesem Kampf beteiligen, indem sie einen Geheimauftrag übernimmt. Geheim – ich betone das Wort. Es kann gefährlich werden, es mögen euch Pflichten abverlangt werden, die neu für euch sind, doch ich weiß, dass ihr tun werdet, was getan werden muss. Ich weiß, dass ihr fähige, tapfere Männer seid, und es kann sein, dass ihr das jetzt zeigen müsst. Während dieser Zeit werdet ihr an Bord bleiben. Eure Offiziere und ich werden alles tun, was in unserer Macht steht, um euch das Leben zu erleichtern, doch ihr müsst euch auf das Unerwartete gefasst machen und allem, was geschieht, mit eurer Erfahrung und euren Fähigkeiten begegnen. Wir werden noch heute vor Rio de Oro vor Anker gehen, und die Händler werden wie gewöhnlich mit den Bumbooten ans Schiff kommen. Diejenigen von euch, die ein bisschen zusätzliches Geld brauchen, um sich das Nötige zu kaufen, mögen sich melden, die Decksleute bei Mr. Ratter, die Maschinenraum-Crew bei Mr. Kovacz. Ich würde gerne mit den Worten enden: Falls ihr Fragen habt, stellt sie nur, aber ich könnte sie nicht beantworten. Ich bin immer auf die Noordendam und ihre Besatzung stolz gewesen, und ich weiß, ihr werdet mich nicht enttäuschen. Was wir tun, das tun wir für die Menschen zu Hause, in Holland, in Europa, wo immer sie sind.« Er ließ ihnen einen Moment Zeit, darüber nachzudenken, und sagte schließlich: »Diejenigen von euch, die gerade Wache haben, können jetzt wieder auf ihren Posten zurückkehren, die Kapitänsinspektion beginnt um zehn hundert Uhr.«
Gott sei Dank, das war geschafft. Er hätte gern gewusst, wie sie darüber dachten. Einige der Männer hatten seinen Blick erwidert – du kannst auf mich zählen. Vielleicht hatten sie bei der Bombardierung von Rotterdam – mit der Holland praktisch den Krieg verloren hatte – Freunde oder Familie verloren, Anschauungsunterricht vom gestrengen Väterchen Deutschland. Einige der Männer hatten auf ihre Schuhe gestarrt, während ein oder zwei von ihnen verärgert schienen: auf ihren Feind, ihren Kapitän, auf das Leben; er würde es nicht erfahren.
Vielleicht ein Drittel von ihnen hatte keine Ahnung, was er gesagt hatte, da sie kein Holländisch konnten, doch ihre Kameraden würden es ihnen schon irgendwie erklären. Die Sprache der Handelsmarine war Pidginenglisch, etwa dreihundert Wörter, mit denen Seeleute durch den Alltag kamen und durch das Leben unter Deck. Einige von ihnen, insbesondere die Maschinisten, konnten nicht lesen und schreiben. Die meisten waren Heizer gewesen in den Tagen, bevor Dampfschiffe auf Treibstoff umgestellt wurden, die Hände schwarz gemasert, wo Schnittwunden und Blasen über dem Kohlestaub verheilt waren. Es gab ein paar Kommunisten, manche heimlich, andere nicht, die seit dem Pakt 1939 angeblich auf Hitlers Seite standen, und ein paar, die die Nazi-Lehren gar nicht mal so verkehrt fanden. Doch letztlich waren sie alle Matrosen, die vom Leben auf dem Schiff nicht lassen konnten, weil sie – wie sie es selber ausgedrückt hätten – mit der See verheiratet waren. Ein hartes Leben, von der Küste aus gesehen, brutal und gefährlich und oft genug tödlich. Und wenn schon – sie hatten es im Blut, so und nicht anders wollten sie leben.
Kees stand neben De Haan, als sich die Männer zu den Prüfplätzen aufmachten. Von Natur aus schweigsam und nachdenklich, kommentierte er das Gesagte nicht, außer mit einem Rauchzeichen aus seiner Pfeife, das der Wind sofort verwehte.
»Vor dem Mittagessen gibt's ein Offizierstreffen in der Messe«, sagte De Haan zur Antwort auf den Rauch.
Kees nickte. Einige Leute können offenbar nicht genug Ärger auf dieser Welt kriegen, sie müssen sich unbedingt noch mehr an Land ziehen. Er sprach es nicht aus, doch De Haan verstand ihn nur allzu gut.
18.30 Uhr. Villa Cisneros.
De Haan hatte die Noordendam weit draußen in der Bucht verankert. Sie hätte auch am Tiefwasserpier festmachen können, doch die Entscheidung lag bei ihrem Kapitän, und der hatte vielleicht die Dockgebühren sparen wollen – Pfennigfuchserei war in der Welt der
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