Die Stunde des Wolfs
gewesen.
Genau wie die mit Arlette. Ende April 1940, unheilvoll, doch keiner der beiden hatte es geahnt. »Unsere letzte Nacht«, hatte sie gesagt. »Du lädst mich zum Essen ein.« Sie suchte das Restaurant aus, die Brasserie Heiniger, unten an der Place Bastille, und De Haan hatte in dem Moment, als sie den Fuß über die Schwelle setzten, gewusst, dass es ein Fehler war. Es war viel zu grandios, weißer Marmor und rot gepolsterte Bänke und goldene Spiegel, Kellner mit üppigen Schnurrbärten, die mit Langusten- und Saucisson- Plattenvorüberschwebten, während sich die smarten Pariser an den dicht besetzten Tischen drängten und lachten und brüllten und Wein nachbestellten, alle wild und vom Es-gibt-Krieg-Fieber gepackt.
Nichts für uns, hatte er gedacht. Sie hatte ihn gebeten, seine Uniform zu tragen, mit Mütze und allen Schikanen, und er hatte es getan, während sie sich in ein smaragdgrünes Kleid aus früheren, schlankeren Zeiten gezwängt hatte. Und da standen sie nun hinter einer Samtkordel, ein kläglicher De Haan, dem mit einem Schlag bewusst wurde, dass sie ins Bistro und nicht in die Brasserie gehörten. Während sie warteten, fegte ein gut aussehendes Paar durch die Tür, sagte etwas Schlaues zum Maître d' und suchte sich selbst einen Platz. Der Maître d' warf den geduldigeren Gästen einen entschuldigenden Blick zu, es gebe eben Leute, die einfach machten, was sie wollten. De Haan, der, wie er hoffte, seine zerbeulte Kapitänsmütze unter dem Arm versteckt hielt, versuchte einfach, so zu wirken, als wäre es ihm egal.
Dann erschien der propriétaire auf der Bildfläche. Klein und geplagt, jeden Moment auf das nächste Malheur gefasst, konnte er nur der Besitzer sein. Doch das hier – das konnte er in Ordnung bringen. »Ich bin Papa Heiniger«, stellte er sich ihnen vor. Er verlor kein einziges Wort darüber, doch De Haan wusste, dass es an der Uniform lag, selbst der eines Handelskapitäns, die für ihn offenbar von Bedeutung war. »Tisch vierzehn, André«, sagte er zum Maître d' und scheuchte ihn davon. Und dann an De Haan gewandt: »Unser bester, Monsieur le capitan , für Sie und Madame.«
Und so war es auch. Aller Augen folgten der Prozession zum Altar – wer sind denn die? Mit einer eleganten Handbewegung schnippte der Maître d' das Reserviert-Schild vom Tisch, rückte Arlette mit theatralischer Beflissenheit den Stuhl zurecht, klatschte im Stil eines Maestro in die Hände und sagte: »Zum Entrée, denke ich, les Kirs Royals ? Und danach natürlich Champagner, ja?«
Aber selbstverständlich, was denn sonst. Und danach die Perfektion des Exzesses. Choucroute , Sauerkraut mit Speck, Schweinefleisch und Würstchen, wieder Royals, und damit auch noch eine Runde Champagner, über das Sauerkraut gegossen – der Roederer, den er bestellt hatte, war nicht genug. Und als die alte Dame, die auf der Straße Blumen verkaufte, von Tisch zu Tisch ging, kaufte er Arlette eine Gardenie. Sie steckte sie sich ins Haar, schnüffelte ein bisschen, küsste ihn, um im nächsten Moment wieder zu lachen – aufgeregt, glücklich, triste, champagnertrunken, all die Dinge, die sie am liebsten mochte, und alles auf einmal.
Während sie auf ihren Kaffee warteten, wies De Haan mit dem Kopf auf die Spiegelwand über der Polsterbank. »Ich mag mich ja irren«, sagte er, »aber dieses Loch in der Ecke sieht aus, als wäre es durch eine Pistolenkugel entstanden.«
»Ist es auch«, sagte sie.
»Und das reparieren sie nicht?«
»Niemals! Es ist berühmt.«
Nun denn, dachte er im gedämpften Licht der Bar Reina Cristina, es wird nicht bei dem einen bleiben.
Er sah auf die Uhr. Wo blieb die Fähre? Der Barkeeper brachte ihm noch ein Bier. An einem Tisch in der Nähe sprachen zwei Männer deutsch. Er konnte sie im Spiegel sehen; Kerle mit harten Gesichtszügen, die eine Zigarette nach der anderen rauchten, grobschlächtig, laut und ernst. Eine seltsame Unterhaltung darüber, wie sich manche Menschen bis über beide Ohren in Schwierigkeiten brachten, wie ihnen das Wasser bis zum Halse stand, weil sie nicht wussten, was gut für sie war. Fast so, als ob sie das Ganze seinetwegen in Szene setzten – sie redeten zwar miteinander, aber in Wahrheit mit ihm. Einer von ihnen begegnete im Spiegel seinem Blick, hielt stand und sah nach einer Weile weg. Nein, dachte er, es ist nichts. Nur diese verdammte Stadt mit ihrem rauen Wind und den dunklen Gassen, die seine Phantasie allzu sehr angeheizt hatte.
Arlette, die
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