Die Sturmrufer
Inu.
»Du hast zum ersten Mal einen Naj gesehen, nicht wahr?«
Amber zögerte. Gab sie sich eine Blöße, wenn sie zugab, dass er recht hatte? Schließlich nickte sie.
Er wägte noch einige Augenblicke einen Gedanken ab, dann aber seufzte er und schüttelte den Kopf.
»Du wirst dein Glück alleine versuchen müssen. Warte ein paar Tage in Ujas Herberge ab, sieh dir die Stadt an – und dann melde dich im Haus des Fischerkönigs und sieh zu, dass du eine Genehmigung bekommst. Manchmal haben auch Leute vom Land Glück und dürfen auf dem Gemüsemarkt arbeiten.«
Das reichte! »Leute vom Land? Gemüsemarkt, ja? Du arrogante Fischhaut! Die Berge gehören ebenso zum Meerland wie Dantar!«
Inu widersprach nicht, nur das spöttische Zucken um seinen rechten Mundwinkel verriet seine Gedanken. »Wie du meinst. Lass dich jedenfalls nicht von der Herbergswirtin übers Ohr hauen. Das Ungeziefer, das in Ujas Algenmatten haust, könnte einen ganzen Schwarm von Fliegenschnappern ernähren. Leb wohl!«
Du wirst ihn nicht niederschlagen, befahl Amber sich selbst. Du bist in Dantar, in Dantar prügelt man sich nicht.
Kochend vor Wut und Enttäuschung sah sie dem Seiler nach, bis er hinter der nächsten Straßenbiegung verschwand. Er schaute sich nicht um, natürlich nicht. Es war tatsächlich so, als stammten sie aus zwei völlig verschiedenen Ländern. Die ganze Mutlosigkeit kehrte zurück. Ihre Kleidung klebte nass und kalt an ihrem Körper, doch die Luft war schwül und warm und schien sie erdrücken zu wollen. Ihr Tuch schlotterte um ihren Körper, als sie zu Ujas Herberge ging.
Glitschiger Tang säumte die Straße, einige Fensterläden waren abgerissen, und auf den vorher tadellos geweißelten Häuserfronten hatte sandiges Wasser eine deutliche dunkle Grenzlinie hinterlassen. Amber biss sich auf die Unterlippe. Das Wasser hatte hoch gestanden – so hoch, dass es die Kammer mit den Taschen und Beuteln sicher erreicht hatte. Ohne anzuklopfen, stürzte sie in den kleinen Innenhof, wo das Handelsgut der Gäste gelagert wurde. Hier zappelten immer noch kleine Köderfische in den verbliebenen Pfützen zwischen den Pflastersteinen herum. In der Ecke des Hofes standen Holzeimer mit den größeren Fischen. Krabbenscheren bewegten sich dort neben tastenden Seesternen. Ein Drachenfisch klappte das Maul auf und zu wie ein stummer Sänger.
Helfer waren bereits zur Stelle und schoben mit Besen und Stangen das angeschwemmte Gerümpel an die Seiten. Mitten im Hof stand wie eine kugelförmige, keifende Königin die alte Uja, fuchtelte mit ihren spindeldürren Armen, beschwerte sich über die langsame Arbeit ihrer Helfer und drohte damit, ihnen kein Geld zu geben. Als sie Amber erblickte, winkte sie mit einer ungnädigen Geste ab.
»Kein Nachlass«, raunzte sie. »Bezahlt ist bezahlt! Wenn ihr denkt, ich würde euch euer Geld…«
»Was ist mit den Kammern?«, fiel ihr Amber ungeduldig ins Wort.
»Alles nass!«, jammerte Uja. »Die Türen aus den Angeln gebrochen, die Matten ruiniert! Ich werde Tage brauchen, um…« Amber ließ die alte Wirtin einfach stehen und rannte in den Schlafraum. Die Algenmatten hatten sich mit Wasser vollgesogen und stanken erbärmlich nach Fäulnis und lauwarmem Tang. Die Tür zur Kammer war vom Wasser tatsächlich aus den Angeln gedrückt worden. Und Ambers Tasche war fort.
*
Eine heiße Sommernacht hatte sich über Dantar gesenkt. Es war so ruhig, als hätte nie ein Sturm getobt. Gespenstisch still lag die spiegelglatte Fläche des Meeres vor dem Horizont. So wie Amber hatten sich auch einige andere Gäste der Herberge auf das flache Dach des Gebäudes zurückgezogen und sich aus ihren verbliebenen Habseligkeiten ein behelfsmäßiges Nachtlager zurechtgemacht. Immerhin war das Dach noch warm von der Abendsonne.
Unten fluchte und schimpfte Uja. Das nasse Klatschen der Algenmatten war zu hören, die von den Helfern im Innenhof aufgeschichtet wurden. Amber betrachtete den kleinen Ausschnitt des Hafens, den sie zwischen den Häusern erkennen konnte. Ein abgebrochener Mast ragte zwischen zwei Häusersilhouetten in den klaren Nachthimmel. Die Takelage hing zerfetzt herunter, Segelreste bewegten sich im lauen Nachtwind. Und im glatten Meer dümpelten kantige, dunkle Gegenstände. Manche erinnerten an die Körper dahintreibender Menschen. Amber fröstelte trotz der Wärme und zog ihr Tuch enger um ihre Schultern. Es war immer noch nicht trocken. Die Leinenhose hatte sie ausgezogen und zum Trocknen auf
Weitere Kostenlose Bücher