Die Suche nach dem verborgenen Glück
gerade fressen wollte. Aber was hatte Iktumi mit dem Glück zu tun? Konnte sie ihn wieder glücklich machen? Und vor allem: Wie lange würde es dauern, bis er wieder glücklich wäre?
Kurze Zeit später tauchte Ben Long Feather auf. Er war 79 Jahre alt (das hatte David in der Schule gelernt), wirkte jedoch nicht älter als 50. Er hatte nur wenige Falten und auf beiden Seiten des Kopfes ein paar graue Strähnen im Haar. Er kann nicht so alt sein, dachte David.
Ben schüttelte ihm die Hand. »Du wolltest mich sprechen?«
»Ja«, erwiderte David.
»Komm mit.«
Ben führte ihn in sein Büro. Während sie nebeneinanderher gingen, bemerkte David eine heitere Gelassenheit in Bens Gesichtszügen, die ihn an seinen Vater erinnerte. Auch Ben kennt die Antwort, sagte sich David, als der die Tür öffnete. Er weiß, wie man glücklich wird. David hoffte, dass dieser Mann das Geheimnis lüften würde.
Das Büro war voll gestopft mit indianischen Gegenständen, die mit Schildchen versehen, aber noch nicht ausgestellt waren. Alles deutete daraufhin, dass Ben seine Arbeit wirklich liebte. David zog die Rolle hervor und reichte sie ihm.
Ben Long Feather betrachtete sie einen Moment. Er fragte: »Wie kann ich dir helfen?«
»Ich habe keine Ahnung, welcher Sinn sich dahinter verbirgt, und ich bitte dich, ihn mir zu erklären.«
»Ich verstehe«, entgegnete Ben nickend, mit einem sanften Lächeln. Bevor er sprach, hielt er kurz inne. Er schien nach den richtigen Worten zu suchen. Schließlich sagte er: »Der mnihuha ist abgenutzt und knochentrocken. Er ist sehr alt. Ich denke, einer unserer Vorfahren hat ihn gefertigt. Die Bilder wurden mit Lehm und natürlichen Ölen gemalt. Ich habe solche Rollen schon vorher gesehen. Sie dienen dazu, den Indianern all das beizubringen, was sie wissen möchten, und stellen die Symbole einer Reise dar. Die Rolle berichtet über die Legende eines jungen Indianers, der die Reise des Verstehens unternimmt. Diese nennt man Wokahnigapi Oiglake.«
David wusste, dass Ben ihm die eigentliche Antwort ebenso vorenthielt wie sein Vater.
»Mein ate meinte, dass die Rolle mich glücklich machen kann.«
Ben lächelte und nickte: »Dein ate ist ein sehr weiser Mann.«
»Ich muss herausfinden, was die Bilder bedeuten. Kannst du es mir sagen?«
»Nein, tut mir Leid. Dazu bin ich nicht kompetent genug. Du musst jemanden mit mehr Erfahrung treffen, als ich sie habe - jemanden, der mit deinem inneren Selbst kommunizieren kann. Nur dieser Mensch vermag dir zu sagen, was sie bedeuten.«
Die gleiche Antwort, die mir schon mein Vater gegeben hat, dachte David. Sie nutzte ihm nichts. Er spürte, wie ihm wieder die Tränen in die Augen stiegen. Warum will niemand mir zur Seite stehen? Warum teilt niemand mir mit, welche tiefere Bedeutung der Rolle zugrunde liegt?
Davids Gesicht rötete sich, und mit gebrochener Stimme fragte er: »Wer kann mich darin unterweisen?«
Ben schwieg und betrachtete ihn mit einem friedlichen Lächeln. David erwiderte seinen Blick ebenso verzweifelt wie angsterfüllt.
»Beug dich zu mir, David«, flüsterte Ben dem jungen Indianer ins Ohr. »Noch näher. Ich habe etwas für dich.«
Ben Long Feather fasste David am Arm. In diesem Augenblick geschah etwas Wunderbares. David sah nicht mehr Ben Long Feathers sanftmütiges Gesicht, sondern andere Gesichter, tausende, die auftauchten und wieder verschwanden. Da erschien das Gesicht seines Großvaters, seiner Mutter und seiner Schwester, das eine ging über in das andere, und doch besaß jedes eine scharf umrissene Kontur. Er sah Tiere, mehrere hundert verschiedene Arten, und er sah das Land, in dem er lebte. Orte näherten und entfernten sich, als ob ein Tornado sie aufwirbeln würde. David hatte das Gefühl, selbst ein Teil des Tornados zu sein. Er stieg in die Höhe und seine Welt begann sich zu drehen. Seine Magengrube hob und senkte sich. Plötzlich überfluteten ihn unzählige Gedanken, die meistens zu rasch vorüberzogen, als dass er sie hätte verstehen können. Gedanken über das Leben und die Liebe, Träume, Bilder, Menschen und Tiere durchpulsten seinen Geist mit solcher Heftigkeit, wie er es noch nie erlebt hatte. Der reißende Strom der Gedanken füllte seinen Kopf ganz aus, und wenn David auch nur über eine Sache genauer nachdachte, würde er ihm platzen…
Als die Gedanken endeten, war alles still. Dunkelheit umhüllte David. Er wusste nicht, wo er sich befand oder was er tat. In dieser Finsternis wurde ihm angst und bange.
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