Die Sünde der Brüder
oder?«
»Lord John«, bestätigte Grey mit einem knappen Seufzer.
»Aber -« Percy richtete den Blick wieder auf Hal, der seine Gabel hingelegt hatte und jetzt mit dem silbernen Bleistift, den er stets dabeihatte, ein kompliziertes Muster von Truppenbewegungen auf die Leinentischdecke zeichnete. Der Steward beobachtete dies mit trostloser Miene.
Ist er denn kein Herzog? »Lord John« war die ordnungsgemäße Anrede für den jüngeren Sohn eines Herzogs, während der jüngere Sohn eines Grafen einfach nur »der Ehrenwerte
John Grey« gewesen wäre. Doch wenn Greys Vater Herzog gewesen war, dann…
»Doch«, sagte Grey und verdrehte seinerseits hilflos die Augen zur Zimmerdecke.
Anscheinend hatte Sir George keine Zeit gehabt, seinem Stiefsohn die Verhältnisse zu erklären, sondern ihn nur ermahnt, Hal nicht mit »Euer Gnaden« anzureden - die angemessene Anrede für einen Herzog.
Grey vollführte eine kleine Geste, ein angedeutetes Achselzucken, um auszudrücken, dass er die Situation später im Detail erklären würde. Es war schlicht und ergreifend Tatsache, dachte er, dass er genauso stur war wie sein Bruder. Er zog ein obskures Vergnügen aus diesem Gedanken.
»Ihr denkt also darüber nach, ein Patent im 46sten zu erwerben?«, fragte Grey, während er sich mit seinem Brot die Sauce vom Teller wischte.
»Vielleicht. Wenn das allen… Beteiligten angenehm wäre«, sagte Wainwright und sah seinen Stiefvater und Hal an, dann wieder Grey.
Wäre es Euch angenehm?
»Ich halte es für ein ideales Arrangement«, erwiderte Grey. Er lächelte Wainwright an, ein lässiges Lächeln. »Dann wären wir nicht nur angeheiratete Brüder, sondern zudem Waffenbrüder.« Er hob sein Weinglas, um auf diese Idee anzustoßen, dann trank er einen Schluck Wein, den er einen Moment im Mund behielt, während er sich daran weidete, Percys Blick ganz auf sein Gesicht gerichtet zu sehen.
Auch Percy trank etwas und leckte sich genüsslich die Lippen. Sie waren sanft und voll und vom Wein rot gefärbt.
»Lord John, sagt mir doch bitte, welchen Eindruck Ihr von unseren preußischen Alliierten hattet. War es ein Artillerieregiment, bei dem Ihr stationiert wart, oder waren es Fußsoldaten? Ich gestehe, dass ich mit den Verhältnissen an der Ostfront nicht so vertraut bin, wie ich es sein sollte.«
Sir Georges Frage riss Greys Aufmerksamkeit vorerst von Percy los, und das Gespräch wurde wieder allgemeiner. Hals
Anspannung ließ etwas nach, obwohl Grey sehen konnte, dass er immer noch meilenweit davon entfernt war, Sir Georges Charme zu erliegen.
Du bist ein misstrauischer Hund, weißt du das? , sagte er, indem er seinem Bruder nach einer besonders bohrenden Frage einen Blick zuwarf.
Ja, und das ist auch gut so , erwiderte Hals finstere Miene, bevor er sich dann an Percy wandte und Greys Einladung, das Regimentsquartier zu besuchen, höflich wiederholte.
Doch als der Pudding kam, schien man an allen Fronten freundschaftliche Beziehungen geknüpft zu haben. Sir George hatte Hals Fragen samt und sonders zufriedenstellend beantwortet, und die Tatsache, dass einige davon ausgesprochen aufdringlich gewesen waren, schien ihn nicht im Mindesten zu stören. Eigentlich hatte Grey sogar das Gefühl, dass sich Sir George im Stillen sehr über seinen Bruder amüsierte, wenn er auch darauf achtete, dass Hal nichts davon merkte.
Unterdessen hatten er und Percy Wainwright festgestellt, dass sie sich beide für Pferderennen, das Theater und französische Romanciers interessierten. Als sie begannen, sich über letzteres Thema zu unterhalten, murmelte sein Bruder: »Oh, Gott!« und bestellte eine neue Runde Brandy.
Draußen hatte es zu schneien begonnen; während einer kurzen Gesprächspause hörte Grey die Flocken am Fenster flüstern, obwohl die schweren Vorhänge zum Schutz gegen die Kälte zugezogen waren und das Zimmer von Kerzen erhellt wurde. Bei dem Geräusch lief ihm ein angenehmer Schauer über den Rücken.
»Findet Ihr es hier kalt, Lord John?«, fragte Wainwright, der dies bemerkte.
Ihm war nicht kalt; im Kamin brannte ein tosendes Feuer, das von den Bediensteten des Beefsteaks laufend mit Brennstoff versorgt wurde. Darüber hinaus sorgten reichlich warmes Essen, Wein und Brandy dafür, dass ihm warm blieb. Gerade jetzt brachte der Steward ihnen Glühwein, und ein karibischer Hauch von Zimt würzte die Luft.
»Nein«, erwiderte er und nahm sich einen Becher von dem Tablett, das ihm hingehalten wurde. »Aber es gibt doch nichts
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